Lackenhäuser. „Freedom“- Freiheit. Frei sein, frei von Drogen, freie Entscheidungen treffen. 17 Jugendliche, denen diese Freiheit teilweise abhanden gekommen ist, sind derzeit in der Jugendhilfe-Einrichtung „Freedom“ in Lackenhäuser (Gemeinde Neureichenau) untergebracht. Joachim Klopf, 54, Pädagogischer Leiter der Einrichtung, erklärt im Interview mit dem Onlinemagazin „Da Hog’n“, warum alle Freedom-Beschäftigten „ein bisschen verrückt“ sind (bzw. sein müssen) – und warum mögliche Gesundheitsrisiken einen Jugendlichen nicht von Drogen fernhalten.
Allen Jugendlichen, die einmal auf die vielbesagte „schiefe Bahn“ geraten sind, sei im Laufe ihrer Entwicklung, an einem Punkt ihres Lebens, die notwendige Struktur verloren gegangen, schildert der 54-jährige Bezugserzieher und Diplom-Sportlehrer das Problem. Dabei seien nicht immer nur Drogen der Auslöser, häufig hätten auch familiäre Probleme Schuld an der Misere. „Viele Jugendliche sind von derartigen Situationen überfordert. Es folgen Probleme in der Schule, manche geraten mit dem Gesetz in Konflikt.“
Möglichst viel Positives in den Alltag einbringen
Und genau hier setze das Konzept der Freedom-Einrichtung an. Das Ziel: den Jugendlichen die verlorengegangene Struktur zurückzugeben. Ein Blick auf den Tagesablauf der Heranwachsenden verdeutliche dies: Morgens um halb 7 Uhr (also noch vor dem Frühstück) geht’s mit einem Morgenspaziergang los – „bei Wind und Wetter“, betont Klopf. Nach dem Frühstück beginnt um 8 Uhr dann der Unterricht, der innerhalb der Einrichtung stattfindet. Das offizielle Ziel laute zwar „Qualifizierender Hauptschulabschluss“, informiert der Leiter – in erster Linie gehe es jedoch darum, den Jugendlichen die Angst vor der Schule zu nehmen und deren Selbstwertgefühl zu steigern. Daher versuche man möglichst viel Positives in den Alltag einzubringen…
Klopf unterbricht das Gespräch, geht zu seinem Schreibtisch, kritzelt etwas auf einen Zettel, kommt wieder zurück:
3 + 5 = 8
4 + 2 = 6
7 + 2 = 9
4 + 5 = 8
3 + 1 = 4
Die überschnelle Antwort: 4 + 5 ist nicht gleich 8! „Sehen Sie“, sagt Klopf, der das Ergebnis vorausahnte: „Die vier richtigen Aufgaben sind Ihnen keinen Kommentar wert, die Falsche erkennen Sie sofort“. Es gehe aber genau darum, bereits die kleinsten, positiven Veränderungen im Alltag zu erkennen – und sie zu würdigen.
Wenn’s zu Hause nicht mehr funktioniert…
Von der gemeinsamen Joghurt-Pause übers Mittagessen und den sportlichen Aktivitäten am Nachmittag, bis hin zur Tagesreflektion um 19.30 Uhr ist der Zeitablauf der Bewohner genauestens durchstrukturiert. Diese „Stabilisation“ brauchen sie, ist Klopf überzeugt. Ändere man diesen gewohnten Rhythmus nur geringfügig „verhalten sich alle wie ein aufgescheuchter Hühnerhaufen“, erklärt der 54-Jährige, der seit der Eröffnung der Einrichtung im Jahr 2000 mit an Board ist. Ein Schmunzeln kann er sich dabei nicht verkneifen. Seit fünf Jahren ist Klopf nun als Pädagogischer Leiter tätig – er kennt die Reaktionen der Jugendlichen nur allzu gut…
Wann die jungen Menschen zu „Freedom“ kommen? Wenn’s zu Hause nicht mehr funktioniert, Eltern und/oder Kinder an ihre Grenzen stoßen, stellt das Jugendamt meist einen Antrag bei der Jugendhilfe-Einrichtung in Lackenhäuser. Zunächst einmal „ist kein Jugendlicher gerne da“, berichtet Klopf. Doch mit der Zeit „ist bei vielen die Einsicht da“, dass es so wie bisher nicht weitergehen könne. Einige würden sich am Ende sogar entscheiden, noch länger zu bleiben – „Freedom“ wird zum „Ersatz-Zuhause“.
Aber wie kommt es überhaupt soweit? „Drogen sind ein geiles Zeug“, spricht der Pädagogische Leiter Klartext, ohne dabei eine Miene zu verziehen – und ohne die Gefahr, die von ihnen ausgeht, zu verkennen. „Die Frage ist, welchen Preis Du dafür zahlen willst. Dass Du beim Rauchen vielleicht in 70 Jahren einmal Lungenkrebs davonträgst, schreckt die wenigsten Jugendlichen ab. Aber wenn der Rückhalt der Familie wegbricht, die Einsicht kommt, dass man zu Hause nicht mehr erwünscht ist, fangen die meisten an ernsthaft nachzudenken.“ Ein Bewohner der Einrichtung soll es einmal treffend auf den Punkt gebracht haben: „Wenn Dich die Drogen umarmen, kannst Du deine Familie nicht mehr umarmen“.
„In den Arm nehmen und in den Arsch treten“
Alkohol und Tabak gelten meist als „Einstiegsdroge“. Sogenannte „Legal Highs“ und „Crystal“ erledigen oft den Rest. „Doch wir halten das aus, was Familien meist nicht mehr aushalten“, gibt sich Klopf gelassen. Es sei wichtig, jenes verloren gegangene Vertrauen wieder herzustellen. Um den Jugendlichen wieder Verantwortung für ihr eigenes Leben beizubringen, finden sie Schutz unter der „Käseglocke“ in Lackenhäuser. „Coolness-Training“, therapeutische Gruppen, beim Zimmer-Renovieren mithelfen oder in der Werkstatt ein eigenes Werkstück herstellen – die Methoden, um das Selbstwertgefühl aufzubessern und Struktur ins Leben der Jugendlichen zurückzubringen, sind weitreichend.
„Das ist kein Job, in dem man für Geld arbeitet. Das ist ein Job, bei dem man mit dem Herzen arbeitet. Wir sind alle ein bisschen verrückt…“ Eigentlich sieht der Pädagogische Leiter seinen Job daher nicht als „Arbeit“, sondern vielmehr als Berufung – „man ist einfach so, wie man ist“. Dass der 54-Jährige den Spaß an der Sache noch nicht verloren hat, daran besteht kein Zweifel. „Ich fahre jeden Tag mit Freude hierher.“ Trotzdem sei es für das persönliche Wohlergehen wichtig, klare Grenzen zu setzen, um daheim abschalten zu können. Dies gelinge ihm am besten beim Ringen. Bei dieser Sportart laufe vieles nach dem selben Muster ab – eine sprichwörtliche Mischung aus „in den Arm nehmen und in den Arsch treten“. Das funktioniere bei der deutschen Jugend-Spitze im Ringen sowie bei den Jugendlichen in der „Freedom“-Einrichtung – „einfach faszinierend“, wie Klopf findet.
„Ein Spießerleben eben“
Das „Zuckerbrot-und-Peitsche-System“ wird Klopf zufolge besonders im „Stufenmodell“ der Einrichtung erkennbar. Die Heranwachsenden sind in verschiedene Kategorien – von Stufe 1 bis Stufe 5 – unterteilt, welche mit verschiedenen Privilegien einhergehen. Ein Bewohner der Stufe 2 darf immerhin schon Besuch empfangen, während ein Bewohner der Stufe 4 bereits übers Wochenende nach Hause fahren darf. Verschiedenste Verhaltens-Parameter berechtigen einen Jugendlichen, eine Stufe auf- bzw. abzusteigen.
Das Konzept des Teams um Joachim Klopf scheint zu funktionieren, beim Gespräch mit den Jugendlichen der Einrichtung, die nicht fotografiert werden möchten, wird dies deutlich. „Komm bloß nicht hierher, es ist schrecklich“, sagt einer der Burschen frei heraus – und alle beginnen zu lachen. „Nein Blödsinn“, fällt ihm jemand ins Wort, „die erste Woche ist komisch, aber dann ist’s voll in Ordnung“. Sie seien gerne hier, machen einen freundlichen und aufgeschlossenen Eindruck. Ganz unverblümt und ohne Scham erzählen sie, dass ihnen ihr bisheriges Leben aus den Händen geglitten sei, sie sich jetzt wieder auf dem Weg „zurück in die Spur“ befinden würden. „Sie wollen etwas aus ihrem Leben machen, mit Schule, Ausbildung, Familie, eigenes Haus – ein Spießerleben eben“, fasst Einrichtungsleiter Klopf zusammen, was sich viele Bewohner in diesem Moment denken.
Johannes Gress