Es ist Freitagabend, halb 9. Ich sitze in einem Pub in Moroto. Im Raum befinden sich ausschließlich Männer. Keiner der Gäste spricht, jeder starrt mit leerem Blick vor sich hin, nimmt von Zeit zu Zeit einen Schluck aus seinem mit Gin gefüllten Plastiktütchen (Kosten: umgerechnet zirka 20 Cent für 200 ml). Ich bin umgeben von einer Traube Männern, die mich aufgeregt nach Handynummer, E-Mail oder Facebook-Kontakt fragt. Manche kritzeln mir ihre Kontaktdaten auf den Arm oder in die Hand. Andere gehen den direkteren Weg und fragen mich, ob ich ihnen vielleicht mit ein paar Shilling aushelfen könnte. Alle anderen, die in Besitz meiner Handynummer gekommen sind, werden mich demnächst anrufen und die gleiche Frage stellen.

Das ist Moroto. Und diese Situation fasst zusammen, was hier in den vergangenen gut 30 Jahren schiefgelaufen ist. Ursprünglich waren die Karamojong (und sie sind es zu großen Teilen auch immer noch) ein Nomadenvolk, das mit ihren Viehherden grenzübergreifend in Nordostuganda, Nordwestkenia und im heutigen Südsudan auf der Suche nach Weideland dem Regen hinterherzog. Das Ende des Idi Amin Regimes 1979, der damit einhergehende freie Zugang zu Unmengen an AK47 Gewehren (nach Amins Sturz wurden sämtliche Waffenarsenale einfach offen gelassen) und eine verheerende Dürreperiode im Jahr darauf machten Karamoja über drei Jahrzehnte so gut wie unzugänglich. Aufgrund der ausfallenden Ernten und der Hungersnot 1980 sahen viele den Griff zur Waffe als letzten Ausweg um das Überleben der Familie zu sichern.
AK47-Gewehr gehört zur Grundausstattung eines Haushaltes
So zogen Nacht für Nacht bewaffnete Männer los um Rinder, Ziegen, Esel und Kamele von einem der umliegenden Manyattas (eine Art Mini-Dorf, bestehend aus bis zu 5 Familien) zu stehlen. Das gesamte Vieh einer Manyatta wird meist im Kern der Siedlung gehalten, das heißt beim Überfall müssen erst sämtliche Bewohner der Manyatta aus dem Weg geräumt werden. Das ganze schaukelte sich über die Jahre immer mehr hoch und die Folge waren tägliche Racheakte, Massaker und unzählige Tote (74 Prozent der in den 60er Jahren geborenen Mütter in Karamoja haben mindestens ein Kind verloren und ich kenne hier kaum jemanden in meinem Alter, der nicht mindestens einen Eltern- oder Geschwisterteil verloren hat). Auch wenn es eine Manyatta nicht nötig hatte, eine andere zu überfallen, musste es mit der Zeit zumindest zu Verteidigungszwecken im Besitz einer Schnellfeuerwaffe sein.
Die ganze Misere geht einher mit einigen Versäumnissen von Seiten des Staates und weiteren Waffenlieferungen aus umliegenden Konfliktgebieten. Insgesamt ein riesiger Komplex an Versäumnissen, kulturellen Missverständnissen und Versagen verschiedenster Parteien und Institutionen auf den ich hier nicht in aller Ausführlichkeit eingehen will und kann – die „Wahrheit“ kennt sowieso keiner. Aufgrund der oben beschriebenen Situation sind seit den 80er Jahren einige größere NGOs, allen voran das World Food Programme (WFP) der UN, in der Region stationiert und verteilen sogenannte „Handouts“. Dabei handelt es sich um Lebensmittel, meist Reis oder Maismehl, die ohne Gegenleistung an die Bevölkerung verteilt werden. Mit zahlreichen verstorbenen Familienmitgliedern, andauernden Auseinandersetzungen und schlechten klimatischen Bedingungen waren viele der Karamojong komplett überfordert und so waren die „Handouts“ lebensnotwendig. Leider dauerte es bis 2012 bis die Gegend wieder in einigermaßen friedlichem Zustand war (die offizielle Version „vollständig entwaffnet“ bitte mit Vorsicht genießen, friedlich triff aber durchaus zu).
Er wartet darauf, bis er raus kann. Raus in den Tod!
Unglücklicherweise versäumte man es, diese „Handouts“ irgendwie mit längerfristigen Maßnahmen zu kombinieren und so teilt man nun seit 1980 Woche für Woche Reis aus. Nach einer Woche ist er zu Ende und es gibt neuen Reis. Praktisch oder? Dachten sich auch die Karamojong und über die Jahre schwand die Motivation, sich wieder selbst zu versorgen beträchtlich. Mit der Abhängigkeit von Lebensmittelausgaben musste nun natürlich auch das Nomadenleben aufgegeben werden. Wer in der Stadt in einer Blechhütte lebt, kann natürlich auch keine Viehherden, die Haupteinnahme und der gesamte Stolz eines jeden Karamojong, mehr halten. Das steigerte die Abhängigkeit vom WFP nur noch.
Mittlerweile lebt in Moroto die dritte Generation, die auf diese Art und Weise durchgefüttert wird. Es herrscht bei den meisten die Einstellung, dass man ohne NGOs gar nicht in der Lage ist, zu überleben. Das Selbstvertrauen, der Glaube an sich selbst, dass man selbst etwas aus seinem Leben machen kann, mehr als nur in einem Slum vor sich hin zu rotten und jeden Tag zu warten, bis es dunkel wird, ist völlig abhanden gekommen. Es tut weh, zu sehen, wie ein einst so stolzes Kriegervolk in Blechhütten, von Müll und Kothaufen umgeben, haust. Die einzige Aufgabe des Tages ist es von frühmorgens an so besoffen wie möglich zu sein, randvoll, mit kleinen Gintütchen, nur um zu vergessen, wie verschwendet so ein Leben ist. Ein einstiger Nomade, für den Freiheit und Grenzenlosigkeit die höchsten Attribute im Leben sind, steckt fest in einem Stück Dreck, umzäunt von etwas Maschendraht und wartet darauf bis er endlich raus kann. Raus in den Tod!
Im Verhältnis zum Aufwand – desaströs!
Es hat ewig gedauert, bis man irgendwann gemerkt hat, dass das es so wohl nicht weitergehen kann. Die Erkenntnis: Es muss ein langfristiger, nachhaltiger Weg aus der „Armut“ gefunden werden. Der Weg: westlich! Die Worte „Business skills“,“Vocational Training“ und „Income generating activities“ habe ich in jedem (!) der zahlreichen Interviews mehr als nur ein paar Mal gehört. So besuchen nun ehemalige Nomaden IT-Kurse, lernen wie man eine Risikokalkulation aufstellt und wie man seinen Profit maximiert. Das Ergebnis: Im Verhältnis zum Aufwand – desaströs.
Mal als Beispiel eine Gruppe des „VSO Programmes“ in Moroto. Über sechs Monate wurde eine größere Gruppe in IT unterrichtet, anschließend folgte ein dreimonatiges Training in „business and entrepreneur skills“. Daraufhin wurde diese Gruppe in kleinere „Grüppchen“ aufgesplittert und jede von ihnen wurde mit mehreren Computern, Laptops, Druckern, Scannern usw. ausgestattet. Die Miete und sogar der Strom für ihr neues „Cyber-Cafe“ werden für die ersten Monate bezahlt. Wenn wir im Interview die Betreiber dieser Cafes befragten, inwiefern sich ihr Leben verbessert hat, kamen zögerhafte Antworten wie „manchmal reichts für Lunch oder ein Frühstück“. Kurz: Diese Organisation stellt nicht nur ein kostenloses insgesamt neunmonatiges Training samt Lehrer, Materialien und Einrichtung zur Verfügung, sondern auch noch ein komplettes „Unternehmens-Starter-Paket“. Zudem müssen Autos, Mitarbeiter (das sind nicht wenige) und sämtliche Zusatzkosten gedeckt werden. Alles finanziert durch Spenden. Und alles was am Ende dabei rausspringt ist „manchmal Lunch oder ein Frühstück“?
Warum muss die ganze Welt so sein wie wir?
Zugegebenermaßen ist das eins der extremeren Beispiele, aber es eignet sich gut um zu veranschaulichen, warum hier nicht allzuviel vorwärts geht. Es wird nicht von heute auf morgen passieren, dass ich einen Nomaden in einen Geschäftsmann verwandele. Wenn mich jemand mit 200 Kühen, 120 Schafen und 50 Kamelen in Karamoja in die Wüste stellt, werde ich auch keine zwei Wochen alt und das selbe gilt für die Karamojong und Computershops. Ist der einzige Ausweg für die Karamojong wirklich der Laptop? Warum muss die ganze Welt so sein wie wir? Egal, wo der weiße Mann seinen Fuß hinsetzt, muss alles so werden wie bei ihm zu Hause. Weit weg von Kolonialisierung ist das, was manche NGOs hier betreiben, sicher nicht. Alle NGOs wohnen und arbeiten übrigens im „Seniors Quaters“, dem Viertel der früheren Kolonialherren, abseits vom „Rest“.
Insgesamt sehe ich die Notwendigkeit von NGOs in Karamoja sehr kritisch. Die Unterstützung in den 80ern war durchaus hilfreich und mehr als notwendig. Und auch die Veränderung des Klimas macht das Leben eines Karamojong nicht gerade einfach. Aber die Karamojong leben seit zirka 9000 Jahren als Nomaden und es ist mit Sicherheit nicht der erste Klimawandel, mit dem sie zu kämpfen haben. Zudem sind die Karamojong bis zur Perfektion an ihre Umwelt angepasst und besitzen themenrelevantes Wissen und Fähigkeiten, von denen jeder nur träumen kann.
Mein Lieblingsbeispiel hierzu sind die Tepath. Ein Stamm innerhalb der Karamojong, der in den Bergen um Moroto in Höhlen oder Lehmhütten lebt. Da diese Leute nur mit Hilfe von Einheimischen und über einen dreistündigen steilen Trampelpfad durch die Berge zu erreichen sind, haben sie in all den Jahren noch nicht ein einziges mal Hilfe von einer NGO erhalten. Die Tepath haben bereits gemerkt, dass das veränderte Klima eine etwas andere Lebensweise fordert, sind in die Berge gezogen und betreiben dort nun Ackerbau. Und genau nach dem gleichen Prinzip ist das auch in den letzten 9000 Jahren abgelaufen, ohne NGOs.
Als Öl und Gold entdeckt wurden, kamen die Chinesen
Dennoch würde ich deren Arbeit nicht als komplett überflüssig und nutzlos abstempeln wollen. Selbst die Tepath und auch andere „unberührte“ Stämme gaben gegenüber uns an, dass sie vor allem bei schlimmeren Krankheiten, Verletzungen oder Ernteausfällen gerne in der Lage wären, auf einen Service einer NGO zurückgreifen zu können. Ums gleich mal vorweg zu nehmen, auch ich habe keine perfekte Lösung für den Fall „Karamoja“ parat und ich bezweifle, dass den irgendwer parat hat. Aber nur ums mal gesagt zu haben, die Sache stinkt verdächtig zum Himmel. Als vor ein paar Jahren hier in den Bergen neben einigen anderen wertvollen Mineralien, unter anderem Diamanten, Gold und Öl gefunden wurde, begannen plötzlich die Chinesen ihre Dienste in Form von Straßenbauten zur Verfügung zu stellen. Dass die Chinesen, das nicht immer aus reiner Nächstenliebe machen, ist in Ostafrika bekannt.
Just zur selben Zeit strömten auch sämtliche europäische NGOs in die Gegend. Finanziert von europäischen Geldgebern oder Regierungen. Das Ziel ganz klar, eine verbesserte Infrastruktur und ganz allgemein eine „Modernisierung Karamojas“. Also machen die es nur aus reiner Nächstenliebe – der wissen wir nur unsere eigentlichen Absichten etwas besser zu verpacken als die Chinesen? Ums abzurunden möcht ich sagen, dass ich NGOs in der Region Karamoja durchaus für nötig halte, vor allem im Bereich Gesundheit und in Notsituationen wie Ernteausfällen. Von der Idee eine pastoralistische Gesellschaft in eine westliche zu transformieren, halte ich gänzlich wenig. Ich bin fest davon überzeugt, dass die Karamojong ohne fremde Hilfe in der Lage sind, sich an die veränderten Bedingungen anzupassen. Alles in allem habe ich nach meinem Monat in Moroto mehr Fragen als Antworten. Und das einzige, was ich weiß ist, dass ich eigentlich überhaupt nichts weiß.
Liebe Grüße,
Sokrates (Philosoph) und Hannes (kein Philosoph!)
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