Rottal-Inn/Istanbul. Yeşims bisheriger Lebensweg: vom ländlichen Rottal über London nach Istanbul, die türkische Metropole, die auf zwei Kontinenten liegt. Ich habe mit der lebensfrohen Türkin Abi gemacht – lang ist’s her, elf Jahre sind vergangen. Ihr herzhaftes Lachen, ihre türkischen Schimpftiraden und ihre Abneigung gegen Lügen sind mir in bester Erinnerung geblieben. Jetzt erzählt die 30-jährige Kosmopolitin, deren Namen man übrigens Jeschim ausspricht, warum sie heute in der Türkei lebt, was Heimat für sie bedeutet, wie sie über die aktuelle Situation in der Türkei denkt und wie das Leben als geborene und aufgewachsene Westeuropäerin im Land an der Schwelle zum EU-Beitritt so ist.
„Ganz ausgewandert bin ich im Januar 2010“
Yeşim, ich kann mich noch gut erinnern, als Du uns in der Schule von Deinen Zukunftsvisionen erzählt hast: Du gehst in die Türkei, bist mit einem Geschäftsmann mit Aktenkoffer verheiratet und trägst Kopftuch. Wie ist der Stand der Dinge?
Wirklich? In die Türkei ziehen wollte ich damals nicht, aber das mit dem Geschäftsmann und dem Kopftuch ist wahr. Aber wie’s aussieht, hat sich das Gegenteil ereignet – ein Leben in der Türkei ohne Kopftuch und Geschäftsmann (lacht).
Du bist in Deutschland geboren und aufgewachsen, hast hier Abi gemacht und zu studieren begonnen. Dann bist Du nach England gegangen? Warum England? Und was hast Du dort gemacht?
Während meines BWL-Studiums habe ich ein Semester ausgesetzt und bin in die Stadt meiner Träume gereist – London. Nach ein paar Wochen Intensivsprachkurs habe ich bei einem Fastfood-Restaurant am Piccadilly Circus gearbeitet. Mein erster Aufenthalt hat sechs Monate gedauert. Zwei Jahre später war ich wieder vor Ort, diesmal wegen einem halbjährigen Praktium im Einkauf.
„Hah, was ist Heimat – das würde ich auch gerne wissen“
Schließlich bist Du in Istanbul gelandet und lebst seit wann nun dort?
Ich habe meinen Abschluss während der Rezession 2008/2009 gemacht und demzufolge viele Absagen erhalten. Daraufhin dachte ich mir, ich mache am besten eine Auszeit und bin in die Türkei gereist. Ich habe eine Zeit lang dort gelebt und bin hin und wieder nach Deutschland gekommen. Ganz ausgewandert bin ich dann im Januar 2010.
Ist die Türkei Deine Heimat? Was bedeutet Heimat für Dich?
Hah, Heimat!? Das würde ich auch gerne wissen. Was ist meine Heimat – Deutschland oder die Türkei? Bis ich ausgewandert bin, dachte ich, die Türkei sei meine Heimat. Jedes Jahr habe ich mich auf den Familienurlaub gefreut, in den Sommerferien für insgesamt sechs Wochen. Auf die Sprache, die Kultur, das Wetter, die Menschen und meine Heimatstadt. Damals habe ich als türkisches Mädchen in Deutschland die türkische Kultur vertreten. Jetzt, wo ich in der Türkei lebe, bezeichne ich Deutschland als meine Heimat, weil ich dort aufgewachsen bin. Vertrete jetzt als Deutsche die deutsche Kultur.
Merke: „Istanbul ist nicht gleich Türkei“
Du arbeitest bei Markafoni. Was ist das, was machst Du da genau?
Markafoni ist ein Internet-Start-Up, das Markenartikel online bis zu 70 Prozent Preisnachlass in zeitlich begrenzten Kampagnen anbietet. Ich bin jetzt seit über dreieinhalb Jahren im Unternehmen, wobei ich zu den ältesten Mitarbeitern zähle. Ich habe als Vorstandsassistentin angefangen und habe dann in die Strategieabteilung gewechselt und bin dort als so genannter ‚Senior Business Development Analyst‘ tätig.
Die Frage brennt mir unter den Nägeln: Wie geht es Dir in der Türkei? Ist das Leben dort so, wie Du es Dir gedacht hast?
Istanbul ist lebendig. Das Leben hier ist lebendig. Und ich muss sagen, dass Istanbul nicht gleich die Türkei ist. Schon deshalb nicht, weil die Stadt eine besondere Lage auf dem europäischen und asiatischen Kontinent einnimmt. Die osmanische Architektur wird durch neue modernere Architekturen ergänzt. Genauso ist die Bevölkerungsstruktur ganz unterschiedlich, ebenso die Lebensstile der Einwohner. Also – Kontraste sind überall auszumachen. Jetzt, nach vier Jahren, liebe ich die Stadt über alles und will die nächsten Jahre auf jeden Fall hier verbringen.
Ministerpräsident Erdogan ist immer wieder mal in aller Munde. Wie stehst Du ihm gegenüber?
Ehrlich gesagt, halte ich nicht viel von Politik und rede ungern darüber. Leider haben die politischen und sozialen Umstände im letzten Jahr zu großen Auseinandersetzungen im ganzen Land geführt und die Bevölkerung noch weiter geteilt. Wie gesagt, über Politik rede ich ungern.
„Unklar war, was man wirklich glauben sollte“
Was hast Du mitbekommen von den Protesten? Warst Du gar selbst auf Demos?
Ich selbst war nicht auf den Demos, jedoch haben Demonstranten auf sozialen Netzwerken wie Twitter und Facebook alle Ereignisse vor Ort live mitgeteilt. Unerwünschte Bilder und Kommentare, sogar gefälschte Videos wurden dabei über soziale Netzwerke geflutet. Unklar war, was man wirklich glauben sollte.
Was denkst Du – ist die Türkei reif für einen EU-Beitritt?
Hier sollte man wieder zwischen der ganzen Türkei und den größten westlichen Städten unterscheiden. Betrachtet man nur Istanbul, dann kann man sagen, die Stadt ist europäisch genug und ist mit Metropolen wie London, Paris usw. in eine Kategorie zu setzen. Oder auch andere Städte wie Ankara und Izmir. Der Rest der Türkei ist anders zu bewerten. Der Lebensstandard in diesen Ballungszentren ist meist höher als in anderen europäischen Städten, die den EU-Beitritt schon geschafft haben. Wirtschaftlich ist die Türkei auf einem guten Weg bis zum EU-Beitrittszeitpunkt 2023.
„Deutschland ist für Türken nur noch ein europäisches Reiseziel“
Wie denkt die Türkei über Deutschland?
Anders als vor 20 Jahren (lacht). Deutschland war damals ein attraktives Auswanderungsland. Mein Papa zum Beispiel kam als Gastarbeiter auf Einladung der Lindner AG nach Arnstorf. Jetzt ist es nur noch ein europäisches Reiseziel. Fragt man die Türken, in welchem europäischen Land sie am liebsten leben würden, würden die meisten Spanien nennen, da es ein viel lebendigeres Land ist.
Das Leben in Istanbul unterschiedet sich gewiss vom Landleben in der Türkei. Wäre es eine Option für Dich, auf dem Land zu leben?
Auf keinen Fall! Ich bin zwar in Arnstorf, einer kleinen Ortschaft mit gut 6.500 Einwohnern, aufgewachsen; habe mich aber während meiner Studienzeit und in den letzten Jahren an Metropolen wie London oder Istanbul gewöhnt. Vor allem, weil Istanbul geographisch schon traumhaft liegt.
Du trägst gar kein Kopftuch, wie Du zu Schulzeiten dachtest. Warum nicht?
An meiner Einstellung zur Religion hat sich nichts geändert, aber Kopftuch trage ich noch keins. Vielleicht später.
„Der Glaube hat die größte Bedeutung meines Lebens“
Sag mal, Yeşim, wie hältst Du’s eigentlich mit der Religion? Ich weiß noch, dass Du den Koran zu Schulzeiten intensiv studiert hast. Bist Du gläubig? Und wenn ja, was bedeutet Dir der Glaube?
Wie gesagt, ich bin immer noch sehr an meine Religion gebunden und versuche, sie so viel wie möglich zu praktizieren. Der Glaube hat die größte Bedeutung meines Lebens. So sehe ich es. Er gibt mir Kraft und vereinfacht so Vieles in meinem Leben. Wer die Gelegenheit hatte, den Islam zu studieren, wird wissen, wovon ich rede. Leider wird der Islam aus politischen Gründen sehr negativ dargestellt, was er eigentlich überhaupt nicht ist.
Wenn Du zurückschaust – wie denkst Du über Dein Leben in Deutschland?
Ich bin so froh, dass ich dort geboren und aufgewachsen bin. Es hat mich um Vieles bereichert und meine Lebensweise geprägt. Wäre ich in der Türkei aufgewachsen, hätte ich meine deutsche Seite nicht. Wenn ich gefragt werde, ob ich mich als Türkin oder Deutsche fühle, sage ich immer: ‚Ich habe mir die besten Eigenschaften beider Kulturen angeeignet.‘
Erzähl mir von Deinem Lieblingsplatz in Istanbul!
Definitiv der Bosporus! Nach einem langen Spaziergang an Palästen entlang kann man es sich in den vielen, netten Cafés und Restaurants direkt am Meer bequem machen. Abends werden beide Brücken beleuchtet – und deren Anblick ist fantastisch.
Was liebst Du an der Stadt – was magst Du gar nicht?
Wie gesagt, die Stadt bietet viele Möglichkeiten für Aktivitäten und Kultur gleichzeitig. Die Stadt ist immer lebendig und es wird nie langweilig. Um sich dem Stadtleben auch mal zu entziehen und in die Natur einzutauchen, kann man z.B. den Belgrader Wald besuchen oder einen kurzen Badeurlaub an den Stränden nördlich von Istanbul planen. Was mich an der Stadt am meisten stört, sind der Verkehr und der endlose Stau nach Feierabend und an den Wochenenden sowie wenig Grünflachen im Stadtbereich.
Liebe Yeşim, vielen Dank für das nette Gespräch nach so langer Zeit! Ich wünsche Dir alles Liebe – und wer weiß: Vielleicht sehen wir uns ja mal in Deiner neuen Heimat!
Interview: Eva Hörhammer