Freyung-Grafenau. Am 3. Juli beginnt das von den Freien Wählern initiierte Volksbegehren zu einem viel diskutierten Thema im Bildungsbereich: Soll G8 weiter bestehen bleiben – oder sollen die Schüler zumindest die Wahlfreiheit haben, sich auch für das „alte“ G9 entscheiden zu können? Über G8 wird gestritten, seit in Bayern 2004/2005 die Gymnasialzeit von neun auf nur acht Jahre verkürzt wurde. Zehn Prozent der bayerischen Bevölkerung müssen bis zum 16. Juli ihre Unterschrift im Rathaus abgegeben haben, damit per Volksentscheid abgestimmt werden kann, ob es künftig eine Wahl zwischen dem acht- und dem neunstufigen Gymnasium geben wird. „Nur wenn das Volksbegehren Erfolg hat, wird sich das bayerische Gymnasium positiv weiterentwickeln“, sagt MdL Alexander Muthmann. Mehr Zeit zum Lernen, lautet die Devise.
Lilian Prent hat heuer Abi am Freyunger Gymnasium gemacht – innerhalb von acht Jahren. Eva Müller hat sich sogar zehn gegönnt – elf Jahre ist es mittlerweile her, dass sie am Gymnasium Pfarrkirchen die Hochschulreife erworben hat. Welche Erfahrungen die beiden Frauen gemacht haben, erzählen sie hier im Folgenden. Außerdem haben wir Stimmen verschiedener schulischer und gesellschaftlicher Einrichtungen bei einem Info-Abend der Freien Wähler zu diesem Thema eingefangen.
G8 – Elite vom Fließband
Ich habe mein Abitur im Mai dieses Jahres gemacht. Ich bin der vierte G8-Jahrgang, der seit 2011 die Oberstufe in nur zwei Jahren zu meistern hatte. Dass das G8 nicht zu schaffen sei, kann man nicht sagen. Was allerdings im Raum steht, ist die Frage wie man es schafft.
Das Ziel des G8 war es, die Schüler ein Jahr früher an die Universitäten zu schicken. Schon mit vorzugsweise 18 oder 19, statt mit früher gerne mal 20 oder 21, sollten neue Studenten beginnen, ihre Berufskarriere einzuschlagen und geradlinig auf das Ziel zuzusteuern: Nach dem Master ihren Beruf bis 67 ausüben, Steuern zahlen, die Wirtschaft ankurbeln. Der beste Weg, dieses rentable Ziel zu erreichen, erschien dem Staat, das Schulsystem ein wenig zu vereinfachen.
Die Schüler sollten nicht mehr unter dem Druck stehen, sich für einen Schwerpunkt bei ihren gewählten Fächern zu entscheiden. Die lästigen Leistungskurse wurden abgeschafft. Denn wenn alle den gleichen, gesunden Durchschnitt an Mathe, Deutsch und Naturwissenschaft eingetrichtert bekommen, dann kann man nichts falsch machen. Heraus kommt dann natürlich nichts Halbes und nichts Ganzes, aber eben: Elite vom Fließband. Eine Elite, die nichts sehnsüchtiger täte, als immer weiter zu lernen und dem demografischen Wandel mit vielen kleinen Einsteins entgegen zu wirken. Ein wundervoller Traum. Aber eben nicht mehr.
„Viele haben keine Ahnung, was sie studieren wollen“
Was für eine Elite soll das denn sein, die, wenn sie sich durchs G8 geboxt hat, meistens erstmal nichts wie raus will? Und ja nicht weiter lernen. Das liegt zum einen daran, dass die meisten durchgerockt sind und keinen Platz mehr im Kopf haben. Bei vielen anderen ist es aber auch der Fall, dass sie keine Ahnung haben, was sie denn überhaupt studieren sollen. Bei genau gleich viel Mathe, Deutsch, Fremdsprache und Naturwissenschaft im Kopf, fällt es auch schwer abzuschätzen, in was man besonders gut ist. Durch den Verlust der Leistungskurse ist jeder Grad an Individualität verloren gegangen und hinterlässt nichts weiter als Verwirrung.
Die meisten Abiturienten flüchten sich also in ein work&travel-Jahr nach Neuseeland, Australien, Indien – oder in einen BWL-, Jura-, Lehramts-, oder Ingenieursstudiengang. Mehr scheint auch nicht zur Auswahl zu stehen. Studiengänge wie konkrete Mathematik oder Germanistik sind vom Niveau zu hoch. Es fällt einem schwer, Germanistik zu studieren, wenn man in der Oberstufe nur fünf literarische Werke gelesen hat. Und die Ehrfrucht vor einem Mathematikstudium wird größer, je weniger man in den Mathematikkursen in der Oberstufe ins Detail gehen konnte. Da war eben einfach keine Zeit – und wenn da mal doch eine Stunde Zeit gewesen wäre, dann waren da immer 50 Prozent des Kurses, die das überhaupt nicht interessiert hat. Das passiert, wenn man alle Interessen zusammenmischt.
„Eine verwirrte Elite rennt erstmal weg“
Grundsätzlich denken wir Schüler nicht, dass unsere Unzufriedenheit genau mit dem einen Jahr mehr oder weniger zusammen hängt. Aber sehr wohl damit, wie wir unsere Stärken in der Oberstufe eben nicht ausleben bzw. überhaupt erkennen können. Liebes Ministerium, die Elite ist verwirrt. Und eine verwirrte Elite rennt lieber erstmal weg.
Lilian Prent
G9 – Zeit ist nicht gleich Geld
Ich habe mein Abitur im Jahr 2003 gemacht. Das ist jetzt elf Jahre her – in so einer Zeitspanne verblassen die Erinnerungen durchaus. Dennoch ist mir noch sehr präsent, wie wenig Druck und Stress – verglichen mit den heutigen Schülern – auf meinen Schultern gelastet hat. Insgesamt habe ich zehn Jahre am Gymnasium verbracht – die achte Klasse habe ich wiederholt, weil mir Mathe und Physik nicht so lagen – oder weil ich einfach mit ganz normalen pubertären Umständen beschäftigt war. Selbstverständlich hat es mir nicht geschadet. In der Kollegstufe musste ich mich für zwei Leistungskurse entscheiden. Für mich eine einfache Wahl: Englisch und Deutsch – zwei Fächer, in denen sich der Lernstoff in Grenzen hielt und die am ehesten meinen Neigungen entsprochen habn. Mein drittes schriftliches Abiturfach war Bio, mündlich ließ ich mich in Ethik prüfen. Meine Facharbeit schrieb ich in Deutsch über den Bairischen Dialekt. Ein Zwangs-Mathe-Abi wie es heute Pflicht ist, wäre für mich der gymnasiale Genickbruch gewesen. Meine Abinote entsprach schließlich meinem Engagement und meinem Motto: „Mit geringstem Aufwand das Beste zu erreichen“.
„20 Jahre alt – aber reif fürs Leben fühlte ich mich nicht“
Nein, Stress hatte ich keinen. Ich war 20, als ich die Hochschulreife erreicht habe. Reif fürs Leben fühlte ich mich trotzdem nicht. Eine Lebensreife hatte ich in meiner Schullaufbahn nicht erworben. Ich konnte Kurven diskutieren, den Knallgas-Effekt erklären und Schweineaugen sezieren – aber ich konnte keinen Knopf annähen, kannte die Tücken von Mietverträgen nicht und hatte keine Ahnung von Geldanlagen – nicht zuletzt, weil ich keine übrigen Moneten hatte. Und meinen Kollegen ging es ähnlich. Ich war reif dafür, mal rauszukommen, das auf jeden Fall. Und so studierte ich zunächst in Regensburg, dann in Bamberg Soziologie, Kultur- und Kommunikationswissenschaften. Ich war unter den letzten Diplomanden. Danach gab’s nur noch Bachelor und Master. Ein Trend, der genauso zum G8 passt. Schneller in Form von überstrapazierten jungen Leuten Futter für die Wirtschaft liefern.
Da habe ich nicht mitgemacht. Ich habe mir den Idealismus gegönnt, meinen Neigungen nachzugehen. Das ist bis heute so geblieben. Ich war 27, als ich mein Diplom in Händen hielt. Zwei Jahre später war ich ausgebildete Redakteurin. Ja – das alles hat gedauert, es hat Zeit gebraucht. Reife – vor allem Lebensreife – braucht Zeit wie ein ordentlicher Wein oder auch wie ein Apfel. Unreif schmeckten die Produkte sauer. Jetzt bin ich zwar auch manchmal sauer. Wenn ich mich hin und wieder dabei ertappe, mich dem Leistungsgedanken zu beugen. Denn nach einem sehr gutem Diplom und einer abgeschlossenen Berufsausbildung habe ich mich bis jetzt durch befristete, miese bis unterdurchschnittlich bezahlte Verträge gehangelt.
Mein ökonomisches Kapital ist ein Desaster, könnte man sagen. Aber glücklicherweise gibt es nach Pierre Bourdieu, dem alten Soziologen, noch andere Kapitalsorten. Damit ist mein kulturelles Kapital inzwischen sagenhaft. Ich bin ein individueller (Über-)Lebenskünstler, der das Glück hat, das zu tun, was ihm beliebt. Und ich nutze meine Erfahrungen. Die haben mich gelehrt: Es gibt keine Sicherheit im Leben – keine Sicherheit auf einen guten Studien- oder Arbeitsplatz, keine Sicherheit auf materiellen Wohlstand, erst recht keine Sicherheit auf einen lebenslangen Beruf. Diese Zeiten sind längst vorbei.
„Lieber mehr Zeit haben und einen kritischen Geist entwickeln“
Und vielleicht die wichtigste Erkenntnis: Es gibt keinen Anspruch darauf, dass sich Bildung auszahlt. Diese Mär möchten uns Politik und Wirtschaft gerne vorgaukeln. Sie ist aber eine glatte Lüge. Und darum bringt es gar nichts, die jungen Leute derart zu verheizen und sie schon im Grundschulalter in eine Mühle zu stecken, bei der am Ende Burnout und andere Katastrophen herauskommen. Ein Leben für den Kapitalismus lohnt sich einfach nicht.
Nur ist das bei den Machern des Bildungssystems noch lange nicht angekommen. Ich meine: G9 ist das kleinere Übel. Lieber mehr Zeit haben, um außerschulisch herauszufinden, wer ich bin, was ich kann und wo ich hin will. Lieber mehr Zeit haben und einen kritischen Geist entwickeln, anstatt mich von der „Du-Musst-Mühle“ zermalmen zu lassen. Besser wäre eine Reform des gesamten Schulsystems. In dem nicht der Konkurrenzgedanke von klein auf forciert wird. In dem die Kinder gestärkt anstatt geschwächt werden. In dem sie wirkliche Individuen sein dürfen mit unterschiedlichen Interessen und unterschiedlichen Lerntempi. Hierzu empfehle ich allen Menschen wärmstens Erwin Wagenhofers Film „Alphabet“.
Eva Müller
Weitere Stimmen
Prof. Dr. Michael Piazolo (MdL/Freie Wähler – hochschulpolitischer Sprecher): „Wir setzen in Zukunft auf das neunjährige Gymnasium, denn dann haben die Schüler mehr Zeit zum Lernen und für sich. Durch das G8 hat sich die Übertrittsrate seit Einführung erhöht. Es ist aber wichtig, nicht nur gute Kinder und Jugendliche zu haben, sondern auch deren Individualität zu stärken – und das bleibt leider beim G8 auf der Strecke. Wir fordern: Kleinere Klassen, mehr Lehrer – und mehr Zeit.“
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Michael Halser (Elternbeiratsvorsitzender am LLG Grafenau): „Wir müssen immer wieder die Vorschriften der Politik ausbaden: Es kann nicht sein, dass es ein dauerndes Hin und Her zwischen achtjährigem und neunjährigem Gymnasium gibt. Aus diesem Grund ist meiner Meinung nach eine Rückkehr zum G9 sinnlos. Eine Mischform aus beiden Systemen ist bei uns auf dem Land nicht möglich – allein schon, wenn man die Schulbus-Situation betrachtet. Es muss ein Konzept ausgearbeitet werden, das für alle von Vorteil ist.“
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Günter Breu (Vorsitzender des Philologenverbandes Bayern/Bezirk Niederbayern): „Selbstbestimmte junge Menschen, Verantwortung, aber auch eine schnelle Entwicklung sind die Ziele von uns Lehrern. Beim G8 muss man aber feststellen, dass diejenigen Schüler, die nach dem Abitur entlassen werden, noch nicht die nötige Reife haben. In der Folge fehlen auch die charakterlichen und geistigen Voraussetzungen für die Hochschulen. Beim G8 bleiben die schlechteren Schüler auf der Strecke, die Rücktrittsquote ist in den vergangenen Jahren gestiegen. Wir vom Philologenverband fordern daher, wieder zum neunjährigem Gymnasium zurückzukehren – und unterstützen daher die Initiative der Freien Wähler. Unsere Idee geht jedoch noch weiter: Laut unserem Konzept sollen Schüler nach der achten Klasse die Möglichkeit haben, zwischen neun und acht Jahren wählen zu können.“
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Hans Weber (DJK Fürsteneck): „Das G8 ist nicht alleiniger Grund, warum es immer weniger junge Sportler und allgemein weniger Ehrenamtliche gibt. Ich kenne viele Vereine, die mittlerweile ernsthafte Probleme haben, Nachwuchs zu gewinnen. Das liegt aber vielmehr an den ‚elektronischen Freunden‘ der Jugendlichen. Oftmals ist der PC einfach wichtiger als der Sportverein. Ich plädiere dennoch zu einer Rückkehr zum G9, denn dann erhoffe ich mir, dass der Schulsport wieder mehr in den Vordergrund rückt. Bisher ist das ja immer das Fach, das als erstes ausfällt.“
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Yvonne Kirschner (2. Vorsitzende des BLLV Niederbayern): „Zurzeit haben Gymnasiasten bis zu 36 Wochenstunden, das ist sehr schon viel. Um herauszufinden, was nun wirklich besser ist – also acht oder neun Jahre – muss man beide Systeme über einen längeren Zeitraum miteinander vergleichen. Die derzeitige Diskussion ist hierfür auch ein erster Anstoß. Generell finde ich am G8 nicht alles schlecht – die Intensivierungsstunden beispielsweise.“
da Hog’n
Parteien wollen sich profilieren.
Sie meinen, das geht, indem sie sich gegenseitig bekämpfen.
So kämpfen alle für das Gute und keiner tut es.
Sie könnten doch einfach ihr Gehirn einschalten,
eine konkrete Problemlösung erproben und dann
vormachen, wie gut das geht.
Dann könnte man einfach JA dazu sagen.
Politik läuft aber ganz anders.
Da kann und mag offensichtlich keiner konkret praktisch vormachen,
wie die Lösung funkltioniert.
Aber WIR sollen mit ihnen für ihre unausgereiften Vorstellungen streiten.
Als ob wir sonst nichts zu tun hätten!
In der neuen Ich-kann-Schule würde kein Kind so jemand ernst nehmen:
Lern erst mal selber, wie es geht, würde man sagen.
Wer G9 nicht kann, kann G8 auch nicht.
Das hab ich seinerzeit als Position der IKS geschrieben.
Heute ist da nur fortzusetzen:
Wer G8 und G9 nicht kann, kann G9 immer noch nicht.
NICHT KÄMPFEN SONDERN LERNEN – das erwarte ich von allen.
Freundlich grüßt
Franz Josef Neffe
Der Artikel von Lilian Prent trifft den Nagel auf den Kopf!!!