Faszination Fußball: Kaum eine andere Sportart kann Menschen auf der ganzen Welt gleichermaßen begeistern wie diese. Aber: Was ist eigentlich so toll daran? Die Fakten sind schnell genannt: 20 Männer (oder Frauen) laufen einem Ball hinterher und versuchen das gegnerische Tor zu treffen, das von jeweils einem zusätzlichen Mann (oder einer Frau) bewacht und verteidigt wird. Hm. Hört sich nicht gerade spektakulär an. Und alle vier Jahre wird dieser Sportart noch mehr Bedeutung beigemessen; es werden Feinde zu (Fußball-)Freunden, denn dann zählt nur noch eins: Das eigene Land anfeuern und bei jedem Spiel mitfiebern, mitleiden.
Einfach so. Ohne größere Vorwarnung.
Doch was bedeutet so eine WM für das Austragungsland? In diesem Jahr ist es die „Nation der Lebensfreude“ – Brasilien. Aber ist dort wirklich alles so lebensfroh, wie es im Karneval in knappen Kostümen und mit heißen Rhythmen präsentiert wird? Wohl eher nicht, denn: Mit Bekanntgabe der WM-Austragung im Herbst 2007 sind auch viele (weitere) Probleme auf das ohnehin von Armut und Korruption immer noch gezeichnete Land zugekommen. Eine Weltmeisterschaft erfordert einen enormen finanziellen Kraftakt, der sich zu 85 Prozent auf „öffentliche Gelder“ stützt, wie es so schön heißt. Im Klartext bedeutet dies jedoch nichts anderes, als dass die brasilianischen Steuerzahler dafür aufkommen müssen – vom kleinen Strandsonnenschirm-Verleiher bis hin zu Fußball-Legende Pelé.
Rund elf Milliarden Euro gingen für die Baumaßnahmen drauf: Zwölf neue Stadien mit Parkhäusern und breiten Straßen davor, neue Infrastruktur, neue Hotels für Gäste – und für die Spieler neue Luxusunterkünfte, einfach mal eben aus dem Boden gestampft. Für all diese baulichen Veränderungen wurde viel Platz benötigt, den man dann auch vermeintlich leicht bekam. Etwa, indem man rund 250.000 Menschen zwangsumgesiedelt hat. Einfach so. Teilweise ohne größere Vorwarnung wurden ihre Häuser geräumt, manche gleich zerstört. Den Bewohnern hat man ein neues Zuhause, bis zu 50 Kilometer von der nächsten Stadt weit entfernt versprochen. Eine Verletzung der Menschenrechte. Unverständlich bleibt da auch der Gedanke eines Bürgermeisters, in drei Favelas Shopping-Meilen zu errichten…
Die Arbeitsbedingungen für die Umbaumaßnahmen: schlichtweg menschenunwürdig, fast schon sklavenhaft. Im November 2013 stürzte ein Teil des Daches des Itaquerae Stadions ein – und tötete drei Menschen. Bis kurz vor Beginn der WM waren vier Stadien noch nicht einmal fertiggestellt. Und wie sie nach der Weltmeisterschaft genutzt werden können, ist noch völlig unklar – weswegen einige Stadien heute als „Weiße Elefanten“ bezeichnet werden, da sie dann leer stehen, aber immer noch viel Geld verschlingen werden…
…um das Land auszupressen wie eine Zitrone
Die FIFA, der Welt-Fußballverband, hat sich alle Rechte am Turnier gesichert – und verhängt deswegen auch eine Bannmeile von zwei Kilometern rund um die Stadien, in der einheimische Händler ihre Waren nicht verkaufen dürfen. Mit derlei Maßnahmen sichert sich der Verband sämtliche Einnahmen, die im Zusammenhang mit den Spielen stehen. Die Baianas, die einheimischen Verkäuferinnen, lassen sich das jedoch nicht gefallen – und haben durch Proteste schließlich die Aufhebung der Bannmeile erreicht.
Nicht nur die Aufstände nehmen zu, auch Korruption und Kriminalität steigen weiter an. Kinder sind oft noch mehr betroffen. So greift auch die Prostitution Minderjähriger um sich. Ungefähr 250.000 Jugendliche unter 14 Jahren verkaufen ihren Körper, um somit zumindest ein bisschen was zum Familienunterhalt beisteuern zu können.
Wem bringt die WM also wirklich etwas? Den Brasilianern, deren Kinder sich teils prostituieren müssen, nicht zur Schule gehen können, weil diese zu weit weg ist und die Eltern eingepfercht in Omnibusse 50 Kilometer zur Arbeit unter unwürdigen Bedingungen fahren? Mitnichten. Es ist die milliardenschwere FIFA, die profitiert. Sie hat sich alle Rechte, alle Bestimmungen gesichert, um Kohle zu scheffeln, das Land und seine Leute auszupressen wie eine Zitrone.
Wir (Europäer) wissen im Grunde von all dem, davon, dass bei den Brasilianern, beim gemeinen Volk, nichts von dem Geld, das im Rahmen der WM verdient wird, ankommt. Und trotzdem glotzen wir jedes Spiel im Fernsehen und kaufen – euphorisiert und aus sicherer Entfernung mitfiebernd – alles, was derzeit im Zusammenhang mit dem Turnier in den Medien beworben wird. Vor nahezu jedem Konsumgut, vor fast jedem Produkt stehen aktuell die zwei großen Buchstaben, die den Verkauf ankurbeln, beschleunigen sollen: ein „W“ und ein „M“. Von der WM-Curry-Wurst über den WM-Bierflaschenöffner bis hin zum WM-Klopapier in den Streifen Schwarz-Rot-Gold…
Warum reagieren wir Menschen so „vergesslich“?
Wir wissen, dass sich eine vor Korruption strotzende und offensichtlich ausbeuterische Organisation auf dem Rücken der brasilianischen Bevölkerung bereichert – und mehrheitlich dabei sogar noch von der politischen Elite des Landes unterstützt wird. Und trotzdem schalten wir fast jeden Tag den Fernseher ein und schauen zu, wie sich Honduras und Ecuador im Kampf um das runde Leder duellieren. Diejenigen Fußball-Fans, die sich nicht ausschließlich mit der rein sportlichen Seite des Turniers auseinandersetzen, sondern sich nebenbei auch mit der ethischen Facette einer solchen Mammut-Veranstaltung befassen, stecken doch in einer gewaltigen Zwickmühle, in einem Dilemma, einem Gewissenskonflikt – oder etwa nicht?
Auf der einen Seite verabscheuen und verurteilem wir ganz eindeutig das Geschehen rund um die FIFA-Fußball-WM – auf der anderen Seite möchten wir aber auch teilhaben an den sportlichen Auseinandersetzungen, am Wettkampf, am kollektiven Freudentaumel, der uns doch alle so begeistert. Wir schimpfen in dem einen Moment über die Zustände in Brasilien, empören uns über Negativ-Schlagzeilen, wenn wieder ein neuer FIFA-Skandal ans Licht gekommen ist. Und im nächsten Moment gehen wir zum Public-Viewing in den Biergarten oder kucken gemeinsam bei Freunden die Vorrunden-Kracher Niederlande gegen Spanien oder Deutschland gegen Portugal, bierselig „Schlaaaaaand“ schreiend und in die Vuvuzela prustend…
Warum ist das so? Warum reagieren wir Menschen so „vergesslich“? Warum schauen wir weg, verdrängen lieber? Weil es bequemer ist und in unserer Natur liegt? Weil Moralisch-Sein uns längerfristig anstrengt? Weil unser Fleisch stark, aber unser Wille in letzter Konsequenz so schwach ist? Weil wir unbewusst und nach ein paar Bier dann doch wieder denken: „Das ist so weit weg von mir, das geht mich irgendwie gar nichts an?“
Doch diese Ambivalenz tritt nicht nur bei der Fußballweltmeisterschaft auf. Es gibt sie in fast jedem Bereich des Lebens zu beobachten. Jeder weiß zum Beispiel, dass man die Umwelt schonen, mehr Rad fahren oder zu Fuß gehen sollte. Und wer tut es? Kaum jemand. Jeder weiß, dass Rauchen die Gesundheit gefährdet und die Krebsbildung in der Lunge fördert – viele tun’s trotzdem. Genauso weiß jeder, dass ein Joghurt einen Tag nach Ablauf des Mindesthaltbarkeitsdatums noch lange nicht verdorben ist – und trotzdem findet er meist sofort den Weg in den Mülleimer…
Vor der WM ist nach der WM: Olympia 2016
Fest steht: So viel Zusammenhalt und Euphorie eine Weltmeisterschaft auch mit sich bringt; man sollte doch die Seite der Austragungsländer nicht komplett vergessen bzw. verdrängen. Brasilien hat viel Lebensfreude – zumindest jetzt noch. Aber man weiß nicht wie lange diese anhalten wird. Vor allem, wenn nach der WM 2014 die Olympischen Sommerspiele 2016 warten…
Kommentar: Ruth Zitzl & Stephan Hörhammer