Eggenfelden. Vom Theater an der Rott lesen Sie an dieser Stelle diesmal nicht von Fräulein Weiler – sie lässt diesmal den Schülern der Beruflichen Oberschule aus Pfarrkirchen den Vortritt. Die Abiturklassen nahmen Teil an der ersten Schreibwerkstatt – ein gemeinsames Projekt von Schule und Theater. Auf dem Stundenplan stand: Theorie, Theaterbesuch und das Verfassenen einer eigenen Kritik. So kam es, dass über hundert Schüler die Generalprobe von Peter Turrinis Rozznjogd erlebten. Anschließend gab’s jede Menge Gesprächsstoff in der Talk-Runde „Quatsch mit Rose“ im Theatercafé.
„Ich finde es wichtig, dass sich junge Menschen mit gesellschaftskritischen Themen auseinandersetzen und den Mut haben, ihre eigene Meinung zu äußern,“ sagt Intendant Karl M. Sibelius über das Projekt Schreibwerkstatt. Diesen Mut brachten mehr als 50 Schüler auf. Eine kleine Auswahl lesen Sie hier auf’m Hog’n – von Lisa Maier, Alexander Gaßlbauer, Michael Schachtner, Alexander Ockeloen, Sophie Hofmann und Benedikt Kleiner. Und übrigens: Wer jetzt Lust auf Rozznjogd hat, hat noch Gelegenheit, das Stück am Wochenende zu besuchen: Freitag und Samstag um 19.30 Uhr sowie Sonntag um 18.30 Uhr – Karten gibt’s hier.
LISA MAIER: A real human being
Was verbirgt sich unter der Karosserie? Was steckt hinter der Fassade aus Make-Up, den teuren Klamotten und dem Schmuck? Um einen Menschen tatsächlich kennen zu lernen, muss man Stück für Stück all den Schnickschnack entfernen, wie bei einem Auto alle Teile auseinander bauen und sie jedes für sich betrachten. Dies ist die Hauptaussage des 1971 von Peter Turrini verfassten Stückes „Rozznjogd“, das seit dem 29. November am Theater an der Rott aufgeführt wird. Es äußert offensichtlich Kritik am Kapitalismus und ist deshalb trotz des stattlichen Alters dieses Dramas aktueller denn je. Eines ist klar: Diese Inszenierung von Regisseur Stephan Kasimir lässt einen so schnell nicht mehr los.
Schrott und Glitzer
Das Bühnenbild, ein Schrottplatz mit vielen Details ausgestattet und sorgfältig aufgebaut, hielt mich anfangs davon ab, dem Dialog der Schauspieler zu folgen. Mülltüten, Flaschen, Matratzen, Plakatwände, glitzerndes Lametta. Und inmitten alledem ein silbern funkelndes Auto, mit ebenso grellen Insassen. Er trägt eine schimmernde weiße Jacke über einem Unterhemd und eine ausgebeulte rote Jogginghose. Sie ist eine Discodiva in goldenem Paillettenkleid, Leopardenleggins und einer grell pinken Sweatjacke.
Mit lauter Discomusik und jubelnden Gelächter eröffnet das Stück, die Protagonisten in höchster Euphorie. Sorglos fahren sie weiter, als sie mit einem lauten Knall einen Kinderwagen überfahren. Ihre rauschende Fahrt endet auf dem soeben beschriebenen Schrottplatz – nicht gerade ein romantischer Ort, um eine Verabredung ausklingen zu lassen. Der Mann, ein ungepflegt wirkender Macho, gespielt von Sebastian Goller, versucht zu Anfangs, seine Angebetete, gespielt von Barbara Bauer, zu beeindrucken, indem er mit seinem Gewehr auf die für den Zuschauer unsichtbaren Ratten schießt. Immer wieder aufs Neue ertönen Maschinengewehrsalven, unterstrichen durch flackerndes, grelles Licht.
Was steckt unter der Karosserie?
Beide sitzen auf der Kante vor den Plakatwänden, zappeln nervös mit den Füßen. Hier ein Kichern ihrerseits, er schaut zu ihr, sie schaut weg… Seinen Versuch, sie zu küssen, wehrt sie ab – Sie kenne ihn doch nicht. Jetzt wird langsam das Thema klar: Wen kennt man denn schon wirklich? Er kennt nur sein Auto, das er mit eigenen Händen auseinander und wieder zusammen gebaut hat. Er ist ein Außenseiter und niemand weiß, wer er ist, genauso wenig wie er jemand anderen richtig kennt. Eine Geste ihrerseits wie eine Statue. „Finde es heraus, lerne mich kennen!“ will sie damit sagen. Es beginnt damit, dass die Jackentaschen entleert werden, Zippo, Zigaretten, und andere Kleinigkeiten. Dann ihre Handtasche. Schminke, Geld, ein Buch, Zeitschriften. Als nächstes die Handys. Ein materielles Besitztum nach dem anderen landet auf dem Müll. Sein Geldbeutel ist an der Reihe. Nachdem das Geld am Boden liegt, zerreißt sie es, damit er es nachher nicht wieder aufheben kann, Doch er belehrt sie. Wieso sollte er es wieder aufheben? Ist das Geld erst einmal weg, wird nichts mehr so sein wie vorher.
Ich finde, anfangs macht er durch sein Macho-Gehabe einen absolut unsympathischen Eindruck, doch an dieser und vielen anderen Stellen zeigt sich, dass er viel schlauer ist, als es sich vielleicht auf den ersten Blick vermuten lässt. Er macht sich Gedanken über unsere Gesellschaft und ist deshalb meiner Meinung nach ein sehr sympathischer Charakter. Sie dagegen vermittelt mir eher den Eindruck, dass sie nicht wirklich daran glaubt, was er versucht, ihr klarzumachen. Sie macht zwar den Vorschlag, dass er sie „auseinanderbauen“ und jedes Einzelteil betrachten darf, doch sträubt sich immer wieder dagegen, sich ihm tatsächlich zu öffnen und die Sache auch durchzuziehen.
„Der Arsch ist auch nur ein Mensch“
Noch mehr Dinge, unter anderem teure Computer und Filme werden ausgemistet, sein komplettes Auto wird leer geräumt. Wie in einem Wahn wird ein Gegenstand nach dem anderen weggeworfen, die jeweiligen Werbeslogans wie einen Hohngesang laut ausrufend. Sie befreien sich von der Macht, die diese eigentlich so nichtigen Sachen auf sie ausüben. Von dem Druck, dieses und jenes unbedingt besitzen zu müssen.
Als sie den ekstatischen Höhepunkt ihrer Befreiung erreichen, ertönt Musik, doch keine muntere Discomusik wie anfangs, sondern eher düster und voller Bass. Alle materiellen Besitztümer sind die beiden nun los und nun fallen schließlich die Hüllen, bis die beiden komplett nackt sind. Jedoch fühlte ich mich in diesen Moment nicht geschockt, sondern empfand es als natürlich. Sehr treffend ist meiner Meinung nach, dass hier bewusst kein Schönheitskönig und keine Schönheitskönigin zur Besetzung dieser Rollen eingesetzt wurden. Es wird dadurch nochmals deutlich, dass es im Leben darum geht, sich selbst zu mögen wie man ist und auch ohne all die lebensnotwendigen Kosmetika und weiteren Schnickschnack leben zu können, von dem die Industrie uns weismachen will, dass wir ihn unbedingt brauchen.
Danach herrscht absolute Stille. Die Protagonisten sind nicht zu sehen, das Publikum schweigt. Nach einem Moment kommen die beiden wieder zurück ins Bild, doch nun in einem Rattenkostüm. Sie vergnügen sich nun mit den weggeworfenen Dingen der Menschen auf dem Schrottplatz. Es kommen zwei Männer in Jägerkleidung herein und nach einer letzten Maschinengewehrsalve fallen die beiden „Menschenratten“ tot zu Boden. Das Stück endet mit der Bemerkung einer der Jäger, diese Ratten hätten doch etwas sehr Menschenähnliches… Menschenratten? Rattenmenschen? …
Mein persönliches Fazit ist folgendermaßen: „Rozznjogd“ ist ein sehr spezielles Stück und man muss sich darauf einlassen. Ich gebe zu, dass ich ca. die ersten fünf bis zehn Minuten nicht besonders hingerissen war (außer vom Bühnenbild). Doch je mehr Zeit vergeht, desto besser gefiel es mir, denn es beschäftigt sich mit einem sehr wichtigen und aktuellen Thema und ist darüber hinaus auch noch gut inszeniert. Man kann also sagen, dass es durchaus sehr sehenswert ist.
ALEXANDER GAßLBAUER: Konsumlust braucht leere Seelen
Es ist jeden Tag der gleiche Trott: Wir stehen auf, trinken unsere alltägliche Tasse Kaffee, holen uns mittags Essen von Fast-Food-Ketten, benutzen und erfreuen uns am Materiellen und arbeiten kontinuierlich, um diese Genugtuung zu erreichen. Stärker denn je leben wir in einer Konsumgesellschaft, bei der oft Statussymbole mehr gelten als innere Werte. Das Stück „Rozznjogd“ – in den 70ern geschrieben und doch noch topaktuell – zeigt den Versuch zweier Menschen, sich von dieser Oberflächlichkeit loszureißen und sich richtig kennenzulernen.
Gefangen in Statussymbolen
Gleich zu Anfang wird eine Verabredung inszeniert, die ebenso dem Konsumgedanken zum Opfer fällt. Ein Date, von dem man sich oft nicht mehr verspricht, als kurz seinen Spaß zu haben und die andere Person am nächsten Tag wieder zu vergessen. Die Frau und der Mann, gespielt von Barbara Bauer und Sebastian Goller, bringen diese Attitüde gut rüber. Er behandelt sein Auto, als wär es sein Ein und Alles, sie hingegen ist ausgestattet mit all dem, was eine Frau von Welt braucht, um sich zu präsentieren. Doch man merkt, dass der Mann mehr will, er will sich nicht von der Einstellung, sich mit dem Oberflächlichem zufrieden zu geben, blenden lassen. Er will sich von diesem Schutzschild, das jeder Konsument trägt, befreien und richtig anfangen zu fühlen.
Man spürt regelrecht, wie hin und hergerissen der Mann ist zwischen der Rebellion und dem Drang zum Bequemlichen. Er ist gefangen in seiner Kleidung, seinen falschen Zähnen und seiner Abhängigkeit von Auto, Handy und Vorurteilen. Im Kontrast steht die naiv wirkende Frau, die sich der Konsumgesellschaft vollkommen hingegeben hat, davon geblendet wurde und blind geworden ist. Sie würde von alleine nicht darauf kommen, über den Tellerand der Konsumgesellschaft zu schauen.
Er bringt sie an einen Ort, der wohl wie kein anderer unseren verschwenderischen Konsum präsentiert: eine Müllhalde. Man sieht Unmengen von Müll, zerrissene Werbeplakate und das parkende Auto des Mannes, verziert wie eine Diskokugel. Das Bühnenbild der Ausstatterin Caro Stark stellt eine Konsequenz unseres Konsumgedankens dar, vom Menschen entdeckt, benutzt, verschmutzt und danach verlassen. Nur die Ratten erfreuen sich an den Abfällen unserer Gesellschaft. Dort, am Ort des Verwesens, erfährt der Zuschauer die Folgen unseres verschwenderischen Verhaltens.
Allein die Werbeplakate von namhaften Marken zeigen, wie leicht wir uns manipulieren und in eine bestimmte Form drängen lassen. Diese Form hindert uns Menschen, besser zu erfahren, was das Leid des Mannes gut darstellt. Er trauert über sein soziales Leben, will doch nur geliebt werden und wird letztlich doch nur auf das Äußerliche beschränkt. Nichts treibt ihn an, seine verzweifelten Schreie sind Hilferufe, die in unserer Gesellschaft keiner hört. Da hilft ihm sein ach so geliebtes Auto und seine noch so teure Armbanduhr nichts. Nur das Erschießen der Ratten und seine weiblichen Eroberungen, gespeichert im Handy, scheinen ihm noch ein wenig Sinn zu geben. Überwältigt von den Emotionen schafft er es, der Frau und auch den Zuschauer eine freiere Perspektive zu ermöglichen, denn dieses Problem betrifft jeden von uns. Die falschen Zähne, das Haarteil, all das Make-Up nützt nichts, wenn man das Gegenüber nicht wirklich kennenlernt.
Nur „nackt“ schafft man es, sich näher zu kommen
Ein Gefühl der Euphorie breitet sich im Raum aus. Schnelle Musik und Stroboskoplicht unterstreichen die Emotionen. Die beiden sind mehr und mehr befreit vom Konsumzwang und zeigen letztlich die nackte Wahrheit. So wie jeder Mensch wirklich ist – ohne Fassade. Endlich haben sie sich selbst gefunden, frei und entdeckerfreudig, wie die Ratten, die sich auf der Müllhalde rumtreiben. Und doch werden sie wieder eingeengt, abgestempelt als Zielscheibe, Menschen die aus der Reihe fallen und von der Konsumgesellschaft ausgelöscht werden.
Intendant Karl Sibelius zeigt hier mit Regisseur Stephan Kasimir im südlichsten Niederbayern ein gesellschaftliches Problem auf, das auf diese Gegend, aber auch in Ballungsgebieten wie ein maßgeschneiderter Anzug passt: Der übermäßige Konsumverbrauch und das Verschleiern des eigenen Ichs zeigen eine emotionslose und oberflächliche Gesellschaft auf, welcher wieder gelehrt werden muss, richtig zu lieben und sich so zu zeigen wie man wirklich ist. Es ist Zeit, die Hüllen fallen zu lassen und das Materielle zu vergessen!
MICHAEL SCHACHTNER: Ein Streifschuss ins Schwarze
Es bietet sich ein blendendes Bild auf der Bühne: Das gleißende Scheinwerferlicht reflektiert gnadenlos in die Zuschauermenge, also wollte man noch einmal verdeutlichen: „Ihr seid es, die gemeint sind“. Das golden glitzernde Kleid der Hauptdarstellerin Barbara Bauer, das Auto im „Disco-Kugel-Design“, die von einem Ring herunterhängende Goldfolie, die Bühne als Spiegel. Surreal mutet es an, dass die Ratten erbarmungslos mit Maschinengewehren um ihr Leben gebracht werden. Es fällt im Lichte dieser sich durch das Stück ziehenden Übertriebenheit auch schwer, einen Bezug zu sich selbst zu schaffen. Dies ist schade, da die Botschaft des Stückes an Brisanz und Richtigkeit stärker ist als je zuvor.
Turrini hat ein zeitloses Werk für den Kapitalismus geschrieben. Zu der Zeit, als das Werk entstand (1967), war linke Gesellschaftskritik noch verbreiteter als sie es heute ist. Gerade deshalb erscheint es sinnvoll, dass die Botschaft des Stückes noch lauter nach draußen geschrien wird: „Weniger Konsum!“. Dass sich zwei junge Menschen dazu entschließen, sich auf einer Müllhalde all ihrer Gegenstände, Werte und am Ende auch ihrer menschlichen Attribute zu entledigen, wirft eine interessante philosophische Frage auf. Denn das Ziel dieser Aktion war eigentlich den Menschen hinter der Fassade kennenzulernen, doch was übrig blieb, waren Tiere: Definieren wir uns also nur noch über Konsum und Materialismus? Es wäre wohl ignorant, Turrinis Werk als eine radikale Ablehnung des Konsums zu halten. Denn „Rozznjogd“ zeigt auch, dass Konsum menschlich ist.
Zwei Jäger in bayerischer Tracht haben die beiden Darsteller die nun völlig zu Tieren geworden sind, und Mäusekostüme tragen, zur Strecke gebracht. Die Transformation zum Tier geschieht durch das Ablegen der Kleidung, begleitet durch grelle Lichteffekte und die Zerstörung der Sprache. Das Dialektstück ist zwar in Dialekt gehalten, doch der Dialekt bleibt weitestgehend unauffällig. Es ist die weichgespülte Fassung des Dialekts, dies wird vor allem mit den zwei Jägern deutlich, die ein krachendes Bairisch sprechen. Dies mag vielleicht auch der Tatsache geschuldet sein, dass durch die Verschiebung des Fokus auf die Werbung und die damit eingeflochtenen Werbesprüche ein tiefes Bairisch nicht gänzlich umsetzbar oder wünschenswert war.
Die Werbung war ein Element der Umsetzung, die das höchste Identifikationspotential bot. Jeder kennt die Marken, jeder kennt die Werbesprüche und schon das allein sagt vieles aus. Als die beiden Jäger mit sich überein gekommen sind, dass es wohl keine Menschen waren, die sie da erlegt haben, entdecken sie einen neuen Schwarm an Ratten, das Publikum: ein Streifschuss ins Schwarze.
ALEXANDER OCKELOEN: Rattevous
Die moderne Umsetzung des von Peter Turrini 1971 uraufgeführten Werkes „Rozznjogd“ besticht durch eine knallharte Kritik an der Konsumgesellschaft der heutigen Zeit. Der Regisseur Stephan Kasimir zeigt dem Zuschauer – zum ersten Mal auf bairisch inszeniert – deutlicher denn je, wie uns Werbung und Konsum korrumpiert und uns zu gesellschaftlichen Ratten macht.
Seelenstriptease
Alles beginnt mit „Sie“ und „Er“ – gespielt von Barbara Bauer und Sebastian Goller – und einem Rendezvous auf einer Mülldeponie bei Nacht. Er, ein „cooler“ Macker mit zurückgegelter Frisur und einem Faible für Rattenschießen mit seiner AK-47, Sie eine Tussi mit Fiffi und Glitzerkleidchen und einer Menge Make-Up. Erst wirkt das Stück befremdlich und trumpft – im Kontrast zwischen ästhetischem Müll und einem saumseligen Date – mit anfänglichem Witz, welcher aber im Laufe des Stückes immer mehr an Wahnsinn erinnert. So werden zum Beispiel immerzu Markennamen genannt und die dazugehörigen Slogans wie „Gut, Besser, Paulaner“, die jeder kennt.
Anfangs denkt man dabei an einen guten Scherz von Seitens des Regisseurs, doch weit gefehlt. Die Werbesprüche werden stellvertretend für den Zuschauer zum Zeichen des Konsums. Man fühlt sich in das Dialektstück reingezogen, kennt jeden einzelnen Werbetext, den Er und Sie voller emphatischem Elan und Überdruss aufsagen, während sie ihr morbides und geradezu zynisch ihr nacktes Spiel fortsetzen. Es geht um das Kennenlernen eines Menschen, ohne jegliche nebensächlichen Erkennungsmerkmale, oder wie Er es sagt: „Ohne Karossiere.“ Das Stück ist ein Seelenstriptease, der uns zeigen will, was wir in Wirklichkeit sind. Es wirft ein Licht darauf was passiert, nachdem wir all die menschlichen Laster und Fesseln der Gesellschaft abgeworfen haben: menschliche Tiere in einer Wegwerfgesellschaft voller Kitsch und Müll.
Zwischen Werbeslogans und Müll
Das Bühnenbild und die Kostüme, beide von Ausstatterin Caro Stark entworfen, zeigt ebenfalls den Zwiespalt zwischen Schick und Müll. So kommt es einem wirklich vor als ob die Akteure inmitten zerrissener „Red Bull“-Plakatwandwäldern und Müll spielten, passend zum Müllrendezvous. Die vielen Glitzer- und Goldelemente, sowie der bunte Kitsch von Lichterketten und farbigen Flaschen spiegeln hervorragend den Prunk wieder, den die Gesellschaft sich aufgebaut hat. Was einem zwar nicht sofort ins Auge fällt – abgesehen vom, von Er zusammengebastelten, Auto im DKD (Diskokugeldesign) – sind zwei Sprüche, die gegenseitig im Kontrast stehen. Eine gut erkennbare Leuchtreklame, welche unentwegt „A real human being and a real Hero“ anzeigt und ein kaum bemerkbares starres Graffiti, welches „Desire is a wound of reality“ mitteilt.
Die Kostüme wirken teils retro aber auch modern. Sie geschmückt mit viel Klunker und Glitter im Stil der 80er, Er mit Schlaghose und Goldkettchen der 90er. Beide Schauspieler überzeugen durch ihre teils überzogene Echtheit. Sie sind keine Models oder dergleichen, sie wirken einfach authentisch. Man vergleicht sich mit ihnen, hat oft sogar das Gefühl, als Zuschauer mit den Rollen zu verschmelzen.
Das Dialektstück besticht durch eine gute Auswahl von Sound- und Lichteffekten, die in den jeweiligen Situationen des Spiels passend die Aufmerksamkeit des Zuschauers einfangen. So auch, wenn Er’s Auto gefahren wird oder wenn einer von beiden mit dem Maschinengewehr auf die Ratten schießt – welche meist im Zuschauerraum sind. Das Licht wird je nach Stimmung gedämmt oder bekommt in den aggressiven Momenten eine stroboskopische Wirkung, welche mehr das Feierliche der ganzen Rattenjagd zeigt statt die Brutalität, mit welcher diese getötet werden. Dies zeigt, wie abgestumpft unsere heutige Gesellschaft wohl sein muss und regt zum Nachdenken an.
Alles in allem kann man die Inszenierung von Turrinis Werk als erstklassig und gelungen interpretieren. Zeitgenössisch wiedergegeben durch die beteiligten Personen und passend zur Jahreszeit mit dem alljährlichen Fest des Konsums – pardon, Fest der Liebe. Meiner Meinung nach ein absolut sehenswertes und schonungsloses Stück, welches dem Zuschauer einen Spiegel vorhält und ihm zeigt, in welcher markenverzerrten Zeit wir leben.
SOPHIE HOFMANN: „In uns ist alles Abfall…“
Das gesellschaftskritische Stück „Rozznjogd“ von Peter Turrini wurde zwar schon 1971 im Wiener Volkstheater uraufgeführt, trifft aber auch heute noch den Nerv der Zeit. Es thematisiert den Konsumrausch unserer Wegwerfgesellschaft und ist somit aktueller denn je. Im Theater an der Rott wird das Stück erstmals im bayerischen Dialekt aufgeführt.
Es beginnt damit, dass „Er“, gespielt von Sebastian Goller, und „Sie“, verkörpert durch Barbara Bauer, in seinem protzigen Auto rücksichtslos durch die Gegend rasen. Man hört das Gequietsche der Reifen und rasante Beats. Es ist die erste Verabredung der beiden und „Er“ wählte eine Müllhalde als Location dafür. Dementsprechend wurde auch das Bühnenbild von Caro Stark für dieses Stück gestaltet: ein Werbeplakat von McDonald´s, ein weiteres mit David Beckham, ein Bild von Felix Baumgartner, Schaumstoffmatten, Plastikbehälter, viele Mülltüten und sein silbrig glänzendes Auto auf einem Plateau, von dem aus eine Schräge auf den Bühnenboden führt, sind zu sehen. „Sie“ ist anfangs eine echte „Tussi“ und trägt ein goldenes Paillettenkleid mit Leopardenstrumpfhose, eine pinke College-Jacke und goldene Sneakers. „Er“ verhält sich zunächst wie ein Macho und trägt dazu passend eine Jogginghose mit weißem Muskelshirt und einer Goldkette. Auf der Müllhalde lebt der Mann seinen Urtrieb aus, indem er die Ratten dort jagt und abknallt. Akustisch nimmt man dann die lauten Schüsse eines Maschinengewehrs war und sieht grelles Stroboskoplicht wie in einer Disco.
Keiner will sich unter die „Karosserie“ schauen lassen
„Er“ ist es leid, dass die Menschen so oberflächlich sind und sich keiner mehr Zeit nimmt, einen Menschen näher kennen zu lernen. Entgegengesetzt dazu will er sie jedoch sofort rumkriegen, ohne sie wirklich zu kennen und ohne ernsthaft an ihr interessiert zu sein. Was steckt hinter einem Menschen und was bleibt übrig, wenn man alles Oberflächliche und Künstliche entfernt? Beide beschließen sich näher kennenzulernen, sowohl emotional, als letztendlich auch physisch. So entledigen sie sich der Haarverlängerungen, des Make-Ups, der Zahnprothesen… einfach allem, was nicht zu einem „real human“ gehört. Auch das i-Phone, die Geldbörse und andere Habseligkeiten werden auf den Müll geworfen. Der Regisseur Stephan Kasimir passte das Stückt perfekt unserer Zeit an. So kennen „Er“ und „Sie“ zu jedem Produkt, das sie wegwerfen, den passenden Werbeslogan. Zum Beispiel die Werbesprüche „Redbull verleiht Flügel“ oder „There is no i-Phone since i-Phone“ sind vermutlich fast jedem geläufig. Diese Tatsache verdeutlicht, wie konsumorientiert unsere Gesellschaft ist. Sebastian Goller und Barbara Bauer agieren mit ganzem Körpereinsatz und legen letztendlich sogar ihre Klamotten ab. Mit jedem ausgezogenen Kleidungsstück bewegen sie sich an eine andere Stelle auf der Bühne. Während sie ihre Position ändern, wird es im Saal dunkler und es läuft elektronische Musik. Am Ende stehen sie nackt mit dem Rücken zum Publikum. Für weniger versierte Theaterbesucher durchaus irritierend.
Wir sind alle Ratten
Nachdem am Ende nichts Oberflächliches mehr übrig ist und sie sowohl einen psychischen wie physischen Striptease hingelegt haben, tragen die beiden plötzlich ein Rattenkostüm und wühlen im Müll. Musikalisch untermalt wird diese Szene mit einem fröhlichen Song und dem Refrain „ A real human, a real hero“. Dies zeigt, dass die Menschen eigentlich die wahren Ratten, also Schädlinge sind. Sie produzieren immer mehr Müll und sind so konzentriert auf das Materielle und das Äußere, dass sie das wirklich Wichtige übersehen: den echten Menschen und dessen Wertvorstellungen. Das Stückt nimmt dann eine drastische Wendung, denn zwei Jäger sehen sie als Ratten und erschießen die Zwei. Zum Schluss wenden die Jäger sich zu den Zuschauern und sehen auch in ihnen einen ganze Horde Ratten. Auch sie werden „erschossen“. Das Ende finde ich persönlich sehr gelungen, denn es regt sehr zum Nachdenken an und bezieht das Publikum direkt mit ein.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass dieses Stück aufgrund der derben Ausdrucksweise des „Er“ und der nackten Tatsachen durchaus provokativ ist. Jedoch finde ich es gerade deswegen interessant, weil man nur so dem durch das Kino abgestumpften Zuschauer die Augen öffnen kann. Es ist für viele sicherlich am Anfang etwas befremdlich oder gewöhnungsbedürftig, wie unverblümt dieses Stückt das Thema Konsum behandelt. Aber man sollte einfach unvoreingenommen reingehen und es auf sich wirken lassen.
BENEDIKT KLEINER: Mit Kalaschnikows auf Ratten schießen
Es werden Kinder überfahren, Ratten werden wie die sprichwörtlichen Tauben mit Kalaschnikows erschossen und es gibt eher plumpe Annäherungen zwischen den beiden Protagonisten die nur als “er” (Sebastian Goller) und “sie” (Barbara Bauer) auftreten.
Warum das alles? Woher diese Gewalt? Der Sex? Und das in einem Theater? Trotz der vielen verschiedenen Aspekte des Stücks gibt es einen roten Faden, der in einer Frage mündet: “Was ist echt?” Echt im Sinne von „Worum geht es im Leben?“ Muss man sich immer von einem Konsumgut zum nächsten hangeln? Wie viel Mensch steckt noch unter der Hülle made by Calvin Klein und Co. ? Und wie erreiche ich den Mensch unter all den Schichten noch wirklich?
Das Stück versucht hierbei nicht fertige, scheinheilige Lösungsansätze zu liefern, sondern zeigt eher auf, wie verzweifelt, gar zwanghaft so mancher auf der Suche nach eben jenem ist. So macht “er” gerne Jagd auf Ratten, da er sich nur dabei wahrhaftig männ- und menschlich fühlt. Auch mit Bildung hat “er” versucht, dem “Echt-sein” näherzukommen, wodurch ich mich als baldiger Abiturient doch auch etwas ertappt fühlte. Jedoch wird schnell klar, dass keines von beidem sein Verlangen nach einer echten, vollkommen Beziehung stillt.
Dadurch angefacht, vollziehen beide einen Seelen-Striptease in dem sie sich von falschen Wimpern über Geld bis hin zum Auto allem entledigen, um das Innere des jeweils anderen zu verstehen. Verstehen nimmt hier eine sehr weitläufige Bedeutung ein, nämlich, um es zu formulieren wie einst Konstantin Wecker: Verstehen, nicht intellektuell sondern wie Hunger und Durst.
Die erwähnte Gewalt ist hierbei auch als Bildgewalt zu verstehen die auf den Zuschauer niederprasselt. Die dargestellten Bilder sind extrem, bewusst extrem, eine Provokation an die Gesellschaft. Eine solch spitzfindige Provokation, dass sich diejenigen, die diese Bilder als zu Provokant empfinden, gleichzeitig als Adressat der Kritik outen. Genau diese Brachialität macht das Stück aber auch so passend.
Das 1971 entstandene Original ist für die heutige Gesellschaft, insbesondere in der Weihnachtszeit, um so passender, da die Konsumbesessenheit neue, gar brachiale Ausmaße annimmt. Gegen Ende bedient sich der Regisseur, Stephan Kasimir, nochmal heftig der Ironie-Keule. Die Protagonisten, die beim Erreichen des angestrebten tieferen Verständnis als Ratten reinkarnieren, werden vom Jäger zum Gejagten. Akustisch hätte mehr gemacht werden können. Die Musikbranche ist ein Schmelztiegel des Konsumwahns, was die Aussage der Vorstellung an so mancher Stelle durch Einspielen entsprechender Lied-Sequenzen nochmal mehr als deutlich gemacht hätte. Zwar wurde durch gezieltes Einbringen von Werbesprüchen eine ähnliche Wirkung erzielt, aber bei weitem keine so starke, wie es meiner Meinung nach mit Musik möglich gewesen wäre.
Alles in allem habe ich eine Art Denkzettel mit nach Hause genommen, der mich daran erinnert, dass ich mir weniger Gedanken machen sollte, was ich meinen Liebsten zu Weihnachten schenke, sondern vielmehr, wie ich möglichst viele echte Momente in der stillen Zeit mit ihnen verbringen kann.