Eggenfelden. Fräulein Weiler war wieder einmal im Theater an der Rott. Das letzte Stück („Die Kunst des Monsieur de Jelyotte“) konnte sie nicht sehen: Am Premierenwochenende hatte sie eine Grippe niedergestreckt, am zweiten Wochenende hat sie sich ein bisschen Wellnessurlaub gegönnt. Diesmal hat sie sich ein Kinderstück angeschaut – und war nicht allein in Eggenfelden: Ihre Nichte Rosa hat sie begleitet. „Mein Bruder, der Räuber Kneißl“ hat sie beide in den Bann gezogen. Und sie haben an diesem grauen Novembersonntag noch lange darüber gesprochen. Was ist Gerechtigkeit? Wie wird man zu dem, der man ist? Und: Was gibt’s heute für Räuber?
Eine Räubergeschichte… und noch dazu eine wahre…
Es ist Sonntagnachmittag und ich gehe in mein Theater. Rosa ist dabei. Sie müssen wissen, Rosa ist meine zehnjährige Nichte und wir verstehen uns prächtig. Rosa ist mächtig aufgeregt. Im Theater war sie bisher nur einmal mit der Schule. Sie schaut sich staunend im Foyer um und kann es kaum erwarten, bis sich die großen Türen auftun und wir unsere Plätze suchen. Eine Räubergeschichte…
Ich habe Rosa vorher nichts erzählt. Sie soll unbedarft schauen dürfen. Darum weiß sie nichts vom Räuber Kneißl. Sie weiß nicht, dass es sich um eine wahre Geschichte handelt, die da passiert ist vor über hundert Jahren. Den Mathias Kneißl gab es ja wirklich, wie Sie sicher wissen. Die Obrigkeit hat ihn gehasst, weil er im Staatsforst gewildert hat, weil er die Polizei beschäftigt hat, weil er den Reichen genommen hat. Das Volk hat ihn verehrt als einen, der sich nichts von den Großkopferten bieten lassen hat, der den Armen gegeben hat, der als bayerischer Robin Hood hochstilisiert worden ist.
Vier Schaupspieler – 24 Rollen – vier Kisten
Die Bühne ist ziemlich dunkel. Vier quadratische Kisten stehen da, von der Decke baumeln Fleischerhaken, die mit sämtlichen Utensilien behängt sind – Jacken, Westen, ein Rucksack, eine rote Schürze… Markus Schramm spielt den Kneißl – er ist der einzige, der „nur“ eine Rolle hat. Vielleicht, weil das zeigen soll, dass sich der Kneißl nicht verdrehen ließ, dass er sich selbst treu war? Markus Weitschacher hat insgesamt elf Rollen inne – er spielt unter anderem Alois, den Bruder vom Mathias Kneißl, den Vater, den Chef, die Gendarmen. Tülin Pektas schlüpft in sechs Rollen – sie ist mal Cäcilia, Kneißls kleine Schwester, mal Mathilde, Kneißls Freundin. Und Simone Neumayr hat ebenfalls sechs Rollen inne – von der kracherten Mutter bis zum hinterfotzigen Ratschweib. Alle sind sie wunderbar, wandelbar. Nehmen in Windeseile die Rollen an, sind plötzlich tatsächlich jemand anderer, variieren in Stimmlage und Sprachmelodie, in Haltung und Bewegung. Und Kneißl bleibt Kneißl, vom Bub bis zum Mann, der auf seinem letzten Weg ist.
Es geht alles herrlich schnell: In nur einer Stunde wird Kneißls Leben Revue passiert. Die Kisten werden herumgedreht, geschoben, damit verändert sich in Windeseile das Bühnenbild, die Kulissen. Verstecke tun sich auf, Schulbänke, Türrahmen – die Möglichkeiten sind trotz aller Einfachheit enorm. Und die Sprache begeistert mich absolut: Bairisch – hier wird Dialekt gesprochen. Ich find’s wunderbar. Und der Räuber Kneißl hätt das sicher auch großartig gefunden (den musste ich bringen). Und es wird gesungen – die Musik stammt von Georg Ringsgwandl, das hört man auch eindeutig heraus. Mal singen sie im Chor, mal hat der Kneißl den Blues…
Die Szenenwechsel gehen rasant vor sich. Ich kann dem folgen – aber kann es auch Rosa? Sie kann. Auf der Stuhlkante sitzend verfolgt sie das geschehen, ist ganz dabei. Eine Stunde dauert die „wahre Geschichte für alle ab 8“, wie das Theater an der Rott wirbt. Rosa ist begeistert. Theater – so nah am Geschehen, so live alles, so unmittelbar und fast echt. Und die Geschichte…
Auf dem Nachhauseweg hat Rosa Redebedarf, sie fragt und hat eine Meinung, die denkt nach und hat nicht immer selbst Antworten. Ich hab versucht, Antworten zu geben. Aber leicht ist mir das nicht gefallen…
„Gibt es in echt auch Räuber?“
Ja, Rosa, in echt gibt es auch Räuber. Und der Räuber Kneißl war auch echt – der hat vor über hundert Jahren wirklich gelebt. Heute ist es so: Im Kleinen gibt es Diebe, die zum Beispiel aus einem Laden etwas stehlen. Oder die eine Bank überfallen. Und im Großen gibt es Räuber, die sich aber anders nennen. Die nehmen Leuten auch etwas weg. Manche Leute würden sagen: Der Staat ist ein Räuber, der nimmt uns mit der Steuer so viel weg. Da gibt es viele Beispiele…
„Darf man das denn?“
Nein, Rosa, das darf man eigentlich nicht. Wenn Du etwas stiehlst, wirst Du angezeigt – außer es kriegt keiner raus, dass Du es warst. Wenn einem etwas gehört, hat man meistens dafür etwas getan: Gearbeitet, um sich das leisten zu können, gespart, Geld ausgegeben. Es geht um Geld… Und Geld ist auch Macht. Mit Geld kannst Du Dir etwas kaufen. Und wer kein Geld hat, kann sich nichts kaufen.
„Warum hat denn der Räuber Kneißl was gestohlen?“
Der Mathias Kneißl ist in einer Familie aufgewachsen, wo man öfter Dinge gemacht hat, die eigentlich verboten sind – weil sie arm waren und wenig Geld hatten. Die haben Tiere in einem Wald geschossen, der ihnen gar nicht gehört hat – dann haben sie das Fleisch verkauft. Und der Mathias ist so aufgewachsen. Was Falsches hat seine Familie nicht darin gesehen: Die Reichen hatten das Geld – da konnten sie es als Arme ja nehmen. Als gerechten Ausgleich sozusagen. Aber so einfach ist das natürlich nicht, weil Stehlen ja verboten ist. Und Gewalt sowieso. Man darf ja niemanden verletzen oder umbringen. Jedenfalls ging das Ganze dann so weiter. Der Räuber Kneißl hat wieder jemanden ausgeraubt…
„Und der Räuber Kneißl hat die Polizisten erschossen. Das darf man aber auch nicht?“
Nein, das darf man nicht. Er hat sie angeschossen – dabei sind sie so schwer verletzt worden, dass sie daran gestorben sind. Wahrscheinlich wollte er sie nicht umbringen, aber er hat sich gewehrt, weil sonst er erschossen worden wäre.
„Der Räuber Kneißl war doch aber auch irgendwie gut, oder?“
Ja, das war er schon. Es ist nicht immer eindeutig, ob jemand gut oder böse ist. Wichtig ist, dass man versteht, warum einer was macht. Man muss den Grund kennen. Gut war der Kneißl, weil er schon ein Gefühl für Gerechtigkeit hatte. Und er wollte ja auch ein „ehrbares“ Leben anfangen und als Schreiner arbeiten. Aber als die Leute darüber geredet haben, dass er ja schon mal im Gefängnis war und ein „Böser“ ist, musste ihn sein Chef ausstellen. Sonst hätte er keine Kunden mehr gehabt. Das ist ganz schwierig: Wenn der Chef hinter dem Kneißl gestanden wäre und gesagt hätte: Der Kneißl ist gut in seinem Beruf – und was er früher getan hat, ist egal. Dann wäre vielleicht alles anders gekommen.
„Warum haben denn die Leute so schlecht über ihn geredet?“
Wenn Du etwas machst, was Du eigentlich nicht darfst, werden die Menschen sauer. Wenn Du jemandem etwas wegnimmst. Da würdest Du auch sauer werden. Die Leute denken aber ganz einfach: Wenn Du mal was Schlechtes getan hast, bist Du immer schlecht. Es ist dann ganz schwer, sie vom Gegenteil zu überzeugen. Und dann hast Du dann oft gar keine Chance mehr. Das ist sehr ungerecht. Aber es gab auch Leute, die ihn gemocht haben! Die fanden es toll, dass er sich nicht unterkriegen lassen hat. Und die fanden es toll, dass er sich vom Staat nichts sagen lassen hat. Die fanden es gerecht, dass er von den Reichen genommen hat. Er hat was getan, was sie sich selbst nicht getraut hätten.
„Warum musste der denn sterben?“
Früher durfte man auch in Deutschland Leute für Verbrechen umbringen. Heute ist das nicht mehr so, heute kommt man ins Gefängnis. Der Räuber Kneißl hat sich aber mit den großen Reichen angelegt, das war das Schlimme. Darum musste er sterben. Der Henker hat ihn mit dem Fallbeil geköpft, das ging ganz schnell.
„Das ist nicht gerecht, oder?“
Ja, Rosa, was ist Gerechtigkeit? Das ist ganz, ganz schwer. Weil jeder etwas anderes darunter versteht. In der Gesellschaft gibt es ja bestimmte Werte, an die sich jeder halten soll. Die stehen im Gesetz, die gibt es auch in Religionen. Dazu gehört, dass man nicht stehlen und nicht töten darf. Es gibt keine einfache Lösung. Wenn Du etwas machst, was Dir ein schlechtes Gewissen bereitet, ist das für Dich nicht gerecht. Jemand anderer kann das aber schon ganz anders sehen… Ich glaube: Es gibt keine Gerechtigkeit.
„Werden heute auch noch Leute umgebracht, wenn sie was tun, was man nicht darf?“
Ja. In Deutschland zwar nicht mehr, aber in anderen Ländern ist die Todesstrafe noch erlaubt. Zum Beispiel in manchen Teilen von Amerika, den USA, in vielen afrikanischen Ländern, in Indien, in China…
Puh, das war was. Rosa hat mir wieder mal gezeigt, dass Kinderfragen wunderbar sind: Eigentlich so einfach und logisch – aber so schwer zu beantworten… ganz zufrieden war Rosa mit den Antworten auch nicht. Ihre Mama hat mir gesagt, dass sie die Themen immer noch beschäftigen. Aber ich denke, sie ist eher auf der Seite vom Mathias Kneißl. Zumindest interessiert sie sich jetzt sehr für Räuber. Ich glaube, ich schenke Rosa zu Weihnachten mein Lieblingswerk von Astrid Lindgren: Ronja Räubertochter.
Koproduktion: Vom Theater an der Rott ans „Theater des Kindes“
Sie wollen mit Ihrer Nichte, Ihren Kindern oder einfach nur selbst auch den Räuber Kneißl sehen? Das können Sie. Leider nicht mehr im Theater an der Rott, aber dafür im „Theater des Kindes“ in Linz. Da ist es auch wunderschön. Im Januar geht’s wieder los damit, schauen Sie einfach selbst auf die Homepage: www.theater-des-kindes.at/
Ihr Fräulein Weiler