Grafenau. Kurz vor dem Rifugio Bonatti. Es ist passiert. Dr. Frank Esser spürt seinen Körper nicht mehr. Gedanken ans Aufgeben strömen durch seinen Kopf. „Die größte Hürde ist die psychologische“, wird er später mit stolzer Stimme sagen, in der gleichzeitig ein Anflug von Demut mitschwingt. Rund die Hälfte der Strecke hat er bereits zurückgelegt. Der Gedanke daran, dass er die gleiche Distanz noch vor sich hat, schürt die Selbstzweifel. Bereits jetzt hat er hunderte Läufer gesehen, die ihm auf dem Weg ins Ziel wieder entgegengekommen sind – blass, total entkräftet, am Rande der völligen Erschöpfung. Über die Willenskraft und Passion eines Niederbayers.
„Als ich meine Tochter sah, wusste ich, dass ich es schaffen werde“
„Ab irgendeinem Punkt schüttet der Körper Endomorphine aus, das Gehirn narkotisiert den Körper quasi aus Selbstschutz“, erklärt Dr. Esser. Gerade beim Lauf bergab achtet er besonders auf seine Gelenke und lässt andere Teilnehmer an sich vorüberziehen. Ihm geht es von Anfang an nicht darum, eine möglichst gute Zeit anzustreben. Ihm geht es darum, den Ultra Trail du Mont Blanc (UTMB) zu meistern. Viele derer, die anfangs losgestürmt sind, haben es nicht bis ins Ziel geschafft.
Frank Esser ist erfahrener Bergsportler und weiß um seine körperlichen Reserven – auch ohne seinen Körper zu spüren. Doch die Zweifel drehen sich um die Bronchialentzündung und den Magen-Darm-Infekt, der ihm rund drei Wochen das Trainieren unmöglich gemacht hatte. Er befürchtet, dass das Rifugio Bonatti seine letzte Station auf diesem Trail sein wird. Dann wird er scheinbar auf Italienisch angesprochen und dreht sich zu einem seiner Mitstreiter um. Ein junger Italiener mit einer roten Clownsnase läuft mit verschränkten Armen neben ihm her, mit sturem Blick murmelnd in ein Selbstgespräch vertieft. Esser spürt wie er zwangsläufig schmunzeln muss. Und das gibt ihm Kraft weiterzugehen. Mittags erreicht er die Schutzhütte im Aostatal in den Walliser Alpen. Seine Tochter Julia erwartet ihn bereits. „Als ich sie mit ihrem hoffnungsfrohen Blick sah, wusste ich, dass ich es schaffen würde.“
Dr. Frank Esser, Urologe aus Grafenau, hat den Ultra Trail du Mont Blanc gemeistert. Als 58-Jähriger ist er einer von rund 2400 Teilnehmern – und einer der wenigen in seiner Altersklasse. Dieser Ultra Trail führt mit 168 Kilometern und rund 10.000 Höhenmetern einmal rund um den höchsten Berg Europas herum. Start- und Zielpunkt ist das Alpinsportler-Mekka Chamonix, das binnen 46 Stunden erreicht werden muss. Jede der 30 Versorgungsstationen auf dem Weg dorthin muss bis zu einer bestimmten Uhrzeit durchlaufen werden, um der Disqualifizierung zu entgehen. An nur fünf dieser Stationen dürfen sich die Teilnehmer ihrer eigenen Verpflegung bedienen und ihre Ausrüstung wechseln. „Die Regeln sind streng, aber sie dienen der Sicherheit und Fairness der Teilnehmer.“ Esser nutzt diese Gelegenheiten, um sich insgesamt vier Mal umzukleiden und an die Bedingungen der weiteren Strecke anzupassen.
„Wer hier einschläft, kommt vor Erschöpfung nicht mehr rauf“
Die Pausen sind nur von kurzer Dauer. Frank Esser verbringt sie zumeist im Stehen, um seinen Kreislauf möglichst gleichmäßig stabil zu halten. Er sieht einige Teilnehmer, die die Pausen nutzen, um kurz zu schlafen. Er weiß sicher: „Wer hier einschläft, kommt vor Erschöpfung nicht mehr rauf.“
Nach 42 Stunden erreicht Dr. Esser, umjubelt von vielen Zuschauern, die sich an der Strecke positioniert haben, das Ziel in Chamonix. Es ist ein unendlich großer Moment des Glücks. Er wird von seiner Tochter Julia und einer Freundin empfangen und anschließend zurück ins Hotel begleitet. Die körperliche Verausgabung ist derart drastisch, dass sie ihm die Treppe zum Eingang hinauf helfen müssen. Nach einer Dusche schläft er beinahe einen ganzen Tag.
Zwei Wochen später hat sich Dr. Esser von den unglaublichen Anstrengungen des Ultra-Trails gut erholt. Die Erschöpfung ist einem tiefen Gefühl der Zufriedenheit gewichen. Die Frage, die sich aufdrängt: Warum tut sich ein Mensch das überhaupt an? „Seit Jahren interessiere ich mich fürs Mountainbike fahren, Laufen und auch fürs Bergsteigen. Ich sah den Ultra Trail als gute Gelegenheit, diese Dinge zu verbinden, denn: Mit dem Mountainbike kommt man nicht überall hin“, weiß Dr. Esser und klingt dabei so gelassen, als würde er vom Kartoffelschälen berichten.
„Ich bin dankbar, dass mich der liebe Gott mit Gesundheit gesegnet hat“
Er berichtet ruhig von den Strapazen des Ultramarathons. Besonders fasziniert ist er von den Hochleistungssportlern, die angetreten sind, um den Trail mit einer Bestzeit abzuschließen. Für ein solch schwieriges Unterfangen kann man sich nicht einfach so anmelden. Um am UTMB teilnehmen zu können, mussten innerhalb von zwei Jahren sieben Punkte bei anderen Ultramarathons gesammelt werden, um sich zu qualifizieren. Esser nahm dafür unter anderem am Chiemgauer 100, am Zugspitz Ultra 2012 und, gemeinsam mit seiner Tochter, am Transalpin Run teil. Dennoch ist er auf dem Boden geblieben – ein demütiger Mann, dankbar, dass „der liebe Gott mich mit Gesundheit gesegnet hat“.
Zum ersten Mal hörte Frank Esser vom Trail-Running bei der Lektüre des Geo-Magazins – und war von Beginn an begeistert vom Gedanken, Körper und Geist an die Grenzen des Möglichen zu bringen. Der UTMB fand erstmals im Jahr 2003 mit „nur“ 67 Teilnehmern statt. Als er sich 2012 das erste Mal dafür anmeldete, zeigte sich seine Ehefrau Christine eingangs wenig begeistert. Ihre Sorgen in Anbetracht eines derartigen Gewaltmarschs waren groß. Es bedurfte einiger Überzeugungskraft, bis sie sein Unterfangen vollends unterstützen konnte. Besorgt war sie um ihren Mann dennoch die ganze Zeit …
Aufgrund der hohen Zahl an Anmeldungen wurden die Teilnehmer ausgelost, Frank Essers Name verblieb zunächst in der Lostrommel. Wer 2012 nicht mitlaufen durfte, erhielt zumindest einen begünstigten Startplatz für das Folgejahr. Und somit war er heuer mit von der Partie.
Das „Uro-Team Grafenau“ fieberte an den Praxismonitoren mit
Seine Turnschuhe waren nach dem Lauf völlig ramponiert. Gute Ausrüstung ist ihm zufolge äußerst wichtig, um eine derartige Tortur zu überstehen. „Darüber hinaus sind ein gutes Selbsteinschätzungsvermögen und sportmedizinische Kenntnisse das nötige Rüstzeug.“ Man dürfe nicht vergessen, dass es teils unwegsames, zerklüftetes oder vereistes Gelände in Turnschuhen zu meistern gelte. „Mei Vater hätt‘ ma a Watsch’n geb’n, wenn i mid de Tuanschuah in d’Berg ganga wad“, schmunzelt Esser.
Seine Kollegen von der urologischen Gemeinschaftspraxis konnten Essers Position Dank GPS-Technologie und Google Earth in Echtzeit und bis auf zehn Meter genau mitverfolgen. Das „Uro-Team Grafenau“ fieberte an den Praxismonitoren mit Esser mit. Immer wieder kommt Esser zurück auf die professionelle Organisation des Ultra Trail du Mont Blanc, auf die hochwertige und abwechslungsreiche Verpflegung, die an jeder Station zur Verfügung stand und vor allem auf die begeisterten Zuschauer, die ihn anheizten weiterzumachen.
Als erfolgreicher Teilnehmer erhielt Dr. Esser unter anderem eine rote UTMB-Windbreaker-Weste. „Die werde ich aber nicht anziehen – ich bin keiner, der mit so etwas prahlen will“, sagt er mit einem Lächeln. Der 58-jährige Grafenauer lässt es sich aber nicht nehmen von den gesammelten Eindrücken zu schwärmen. Vor allem die Stirnlampen der Teilnehmer, die die kühle Stille der nächtlichen Alpen wie mit einer Lichterkette umsäumten, ist ihm in besonderer Erinnerung geblieben. Dies führt ihm deutlich vor Augen, dass es keine Selbstverständlichkeit ist, die Schönheit dieses Naturschutzgebiets derart hautnah erleben zu können. Dennoch wird er künftig wohl nicht mehr am UTMB teilnehmen. Davon abgesehen, dass er erneut sieben Punkte zur Qualifikation sammeln müsste, hat er es seiner Frau versprochen …
Martin Larisch