Grafenau. „Schule ist doch schön!“ ruft Lupita begeistert. „Ich würde so gerne zur Schule gehen und Lesen lernen!“ Die Handpuppe mit dem farbenfrohen Kleid und den langen schwarzen Haaren kann gar nicht verstehen, warum manch ein Schüler der Reinhold-Koeppel-Grundschule, der sich an diesem Vormittag ihr Puppentheaterstück anschaut, nicht so gerne zur Schule geht.
Lupita ist ein indigenes Mädchen aus dem mexikanischen Bundesstaat Chiapas. Sie muss ihrer Mutter beim Kochen und Wäsche waschen helfen – und sie arbeitet auf einer Kaffeeplantage. Eine Schule besucht sie nicht. „Das ist doch nichts für Mädchen“, sagt ihre Mama – und überhaupt hätten sie gar kein Geld für die Schulbücher …
„Schule ist doch nichts für Mädchen!“
Gespielt wird Lupita von Heike Kammer, einer Puppenspielerin, die mit ihrer selbst gebauten Puppenbühne durch die Welt reist. Martin Behringer von der Volkshochschule des Landkreises Freyung-Grafenau hat die Friedens- und Menschenrechtsaktivistin im Rahmen des XENOS-Projekttags zu Respekt und Toleranz nach Grafenau geholt. Der Tag beginnt in der Grafenauer Grundschule – mit dem interaktiven Theaterstück „Der Traum der Lupita“.
Lupita redet mit den Kindern, sie erzählt ihnen von ihrem beschwerlichen Leben und von ihrem ganz großen Wunsch, eines Tages die Schule besuchen zu dürfen. Der Wunsch kommt nicht von ungefähr: Auch ihr Vater arbeitete zunächst auf der Plantage, auf der auch Lupita Kaffeebohnen pflückt. Weil die Kaffeehändler ihn aber nicht anständig bezahlten, musste er die Familie verlassen, um sie in einem weit entfernten Ort mit einer neuen Arbeit ernähren zu können. Rechnen und lesen kann er nicht, sonst hätten ihn die Kaffeeanbauer nicht so übers Ohr hauen können.
„Ich habe nun auch in Deutschland eine Aufgabe gefunden“
Eigentlich hat Kammer ihr Puppentheater entwickelt, weil sie mit dieser Methode Erwachsene aus verfeindeten Dörfern im südamerikanischen Chiapas zur Reflexion über ihren Konflikt bewegen wollte. Doch als sie 2005 nach ihrem letzten Aufenthalt in Mexiko nach Deutschland zurückkehrte, blieb sie und entwickelte Theaterstücke zur Friedenserziehung.
„Ich habe nun auch in Deutschland eine Aufgabe gefunden“, sagt die 52-Jährige. „Durch das Puppentheater kann ich deutsche Kinder für das Leben anderer Kinder sensibilisieren – und eine Verbindung zwischen den verschiedenen Welten schaffen.“
Und das funktioniert: Nachdem sich Lupita in eine bessere Welt geträumt hat, verstummt die mexikanische Musik, die ihre Geschichte begleitete – und Heike Kammer tritt vor die mit bunten Tüchern drapierte Bühne.
Die Buben und Mädchen stellen eine Frage nach der anderen: „Wieso isst Lupita Bohnen zum Frühstück? Warum zahlen die Kaffeeanbauer so wenig Geld? Warum muss Lupita ihre Wäsche im Fluss waschen – und weshalb ist Fische fangen die Aufgabe der Jungs?“
Die Friedensaktivistin antwortet geduldig. Dass es Kinder gibt, die nicht zur Schule gehen können und stattdessen arbeiten müssen, stimmt die Schüler nachdenklich. Nach der Vorstellung diskutieren sie mit ihren Lehrern weiter. Heike Kammer wirkt zufrieden.
Wer es nicht weiß, könnte meinen, dass die kleine Frau mit den langen schwarzen Haaren selbst eine Mexikanerin ist. Und tatsächlich hat Kammer Verwandte in Südamerika. Schon als Jugendliche interessierte sie sich für deren Kultur. 1980, im Alter von 19 Jahren, besuchte sie diese in Venezuela und reiste zwei Jahre lang durch Lateinamerika. In dieser Zeit lebte sie vom Verkauf ihres selbstgemachten Schmucks. Die große soziale Ungerechtigkeit, auf die sie während ihrer Reisen immer wieder traf, schockierte sie. Kammer wollte etwas dagegen tun, schloss sich Friedensaktivitäten in ganz Lateinamerika an – und blieb fast 25 Jahre.
Der Film „Die Geschichte erlaubt es mir nicht“
Vor kurzem kam sie wieder zurück ihre alte Heimat: Vier Monate lang fuhr Kammer mit ihrer Puppenbühne durch Mexiko, Guatemala und El Salvador. Länder, in denen sie früher als Friedensfachkraft tätig war.
Die freischaffende Film-Künstlerin und Erlebnispädagogin Susanne Grimm aus Berlin hat sie damals begleitet – und eine Dokumentation über die Menschenrechtsaktivistin gedreht. In der Grafenauer Berufsschule zeigen sie „Die Geschichte erlaubt es mir nicht“ heute zum ersten Mal – vor den Tourismusschülern.
Das Filmporträt erzählt nicht-chronologisch und assoziativ von einer Reise in der Gegenwart und einer in die Vergangenheit. Heike Kammer trifft Freunde aus vergangenen Tagen, sie tritt in entlegenen Schulen auf, zeigt Schülern und Lehrern, wie man aus einer simplen Socke eine Handpuppe bastelt – und bildet neue Puppenspieler aus.
Überall, wo sie hinkommt, wird sie mit Freude empfangen. Viele kennen Kammer noch aus ihrer Zeit als Mitarbeiterin von peace brigades international (pbi). Die internationale Friedens- und Menschenrechtsorganisation pbi begleitet bedrohte Personen, die in den Bereichen Journalismus, Umweltschutz und Menschen- und Frauenrechte tätig sind. „Das sind Menschen, die sich selbstlos für die Rechte anderer einsetzen und deswegen eine Gefahr für das Regime darstellen“, erklärt Kammer. pbi-Freiwillige schützen solche Menschen durch ihre Präsenz vor politisch motivierter Gewalt, Entführung, Inhaftierung oder Ermordung.
Was ist „echter“ Frieden und was ist ein Krieg wert?
Auch das vom Bürgerkrieg gezeichnete El Salvador kämpft immer noch mit seiner Vergangenheit. Dort treffen Kammer und Grimm auf eine Theatergruppe von jungen Menschen, die sich mit den Themen Frieden, Gerechtigkeit und Versöhnung beschäftigen. Was ist eigentlich „echter“ Frieden? Und was ist ein Krieg wert? Keine einfachen Fragen.
Trotzdem: Der Film birgt Hoffnung, weil er eine Auseinandersetzung der Bevölkerung mit ihrem Land zeigt – zugleich ist er bedrückend. Nicht weil man die zahlreichen Gräueltaten sieht, sondern weil man mit Heike Kammers Augen beobachten kann, wie die Menschen diese Gräueltaten aus ihrer Vergangenheit aufarbeiten. Kann ich vergeben, was ein anderer mir angetan hat oder „erlaubt es mir die Geschichte nicht“? Theater, egal ob von Handpuppen oder Schauspielern dargestellt, schafft eine räumliche Distanz – und darüber die Möglichkeit zur Reflexion.
Genauso wie der Film von Susanne Grimm: er hat die Tourismusschüler sichtlich bewegt. Sie wollen von Heike Kammer und Susanne Grimm ganz genau wissen, wie die derzeitige politische Lage in den gezeigten Ländern ist, woraus die Arbeit von pbi besteht – und wie sie selber von Deutschland aus etwas verändern können.
Veränderung, Vergebung, Umdenken – das alles braucht seine Zeit
„Fair-Trade-Kaffee und Schokolade kaufen, damit die Bauern anständig verdienen. Auf Billig-Klamotten verzichten. Sich Gedanken über den eigenen Konsum machen. Eine Hilfsorganisation unterstützen, auf touristische Angebote setzen, die den Menschen vor Ort zugutekommen …“ sind nur einige Vorschläge von den beiden. „Sucht Euch etwas aus, das Euch gefällt“, rät Kammer den Schülern, „und vor allen Dingen: genießt das Leben!“
Auch Heike Kammer tut das – indem sie weiterzieht. Ständig ist sie in Bewegung, immer auf Reisen, einen festen Wohnsitz hat sie nicht. Wozu auch? „Es würde sich nicht lohnen, sooft wie ich unterwegs bin.“ Vor kurzem erst hat sie Puppenspieler in Palästina ausgebildet. Unruhig oder gar getrieben wirkt sie deswegen nicht. Ganz im Gegenteil: von der zierlich-drahtigen Frau geht eine ungeheure Ruhe aus. Vielleicht liegt das an den langen Jahren der Friedensarbeit. Veränderung, Vergebung, Umdenken – das alles braucht seine Zeit. Das ist auch bei ihrer Arbeit mit der Puppenbühne nicht anders…
Dike Attenbrunner
Eine Interessante Frau ich wünsche es gibt mehr davon. Danke für den Bericht