Eggenfelden. Fräulein Weiler liebt Theater. Nicht, weil sie sich schön unterhalten fühlen möchte, sondern weil sie die Abwechslung liebt. Weil das Leben ein bisschen wie Theater ist – und das Theater ein bisschen wie das Leben und sich die Emotionen und Themen ständig überschlagen. Nach dem Schauspiel „Die Beichte“ fuhr Fräulein Weiler mit einem schwarzen Klumpen aus Wut und Traurigkeit im Bauch nach Hause. Missbrauch war das Thema, die katholische Kirche bildete den Rahmen – und die Schatten tanzten an den Wänden.
Wie kann man nur denken, dass das Göttliche ortsgebunden ist?
„Stachel ins Fleisch der Gemütlichkeit, damit die Zeit nicht stehen bleibt“ – so steht es an der Fensterfront des Theaters an der Rott. Oft habe ich mir den Spruch schon angeschaut. Heute habe ich ihn gefühlt. Auch wenn „Die Beichte“ gar nicht im Großen Haus aufgeführt wurde. Und auch nicht in der Sankt-Anna-Kapelle in Eggenfelden, wie es eigentlich angedacht war. Der Stadtpfarrer hatte Intendant Karl M. Sibelius eigentlich schon das Okay gegeben. Aber der Pfarrgemeinderat war nicht dafür. Weil: In einem heiligen Raum, in dem Gottesdienste gefeiert werden … nein, das geht nicht. In einer geweihten Kirche ist Gott daheim, da muss man kein Theater machen. Aha. Was ist weltlich, was ist geistlich? Und wie kann man nur denken, dass das Göttliche ortsgebunden ist?
Gerade mit einem klaren Ja hätten die Eggenfeldner ein Zeichen setzen können. Stattdessen boten sie dem Theater das Pfarrhaus als Alternative an. Und schließlich kam Georg Riedl, Bürgermeister aus Pfarrkirchen, daher und gab die Zusage, „Die Beichte“ in der säkularisierten Spitalkirche in seiner Stadt aufzuführen. Säkularisiert, nicht mehr geistlich, aber mit Altar, Kreuzweg und Heiligenfiguren und den Weihrauch in allen Poren eindeutig als Gotteshaus erkennbar. Das dazu. Genug der Worte um den Aufführungsort. Dieses Tamtam hat dem Theater gewiss gute Publicity gebracht – aber das eigentliche Thema sollte schließlich im Vordergrund stehen.
Missbrauch. Martin muss zur Beichte, er will zur Beichte. Zwar hat er den Glauben verloren, aber er muss noch einmal schmerzhaft hineinschlüpfen in die Sphäre, die seinen Lebensweg zu dem gemacht hat, was er ist: Eine holprige Sackgasse voller Schlaglöcher und Spurrillen. Bei niemand anderen als Pater Eberhard will er seine Beichte ablegen. Martin wurde als Waisenkind von dem Mann missbraucht, der für ihn nach dem Tod seiner Eltern Zuflucht und Hoffnung war. Elterliche Liebe hat er gesucht. Missbrauch hat er erfahren, an Körper und Seele und Geist. Sexuellen Missbrauch, dazu willkürliche Gewalt und gleichzeitig eine scheinbare Zuneigung. Von Pater Eberhard. Ja, und als alles aufflog, war er weg, der Pater Eberhard. Nicht der Missbrauch. Der setzte sich fort im Erziehungsheim. Von Erziehern, dann nur noch vom Heimleiter, der das verletzte Kind erst tröstet, dann intensiv mit Salbe eincremt. Und dann war Martin selbst Erzieher. Und Vater. Und Missbrauchender. Sein eigenes Kind … Sebastian. Erwischt wurde er, geflohen ist er, nun beichtet er. Und dann bringt er sich um. Sagt er.
Dieser tief sitzende Schmerz, die Wunde, die die Zeit nicht heilt
Die Zeitsprünge. Martin als Erwachsener, dann als Kind. Stimmen aus dem Off. Rückblenden. Dieser tief sitzende Schmerz. Die Wunde, die die Zeit nicht heilt. Von drei Erziehern vergewaltigt. Blutlache. Spuren hat er hinterlassen, der Pater Eberhard. Schleimige Spuren wie von einer Nacktschnecke. Waschzwang. Das innere Kind, der kleine Martin, der sich schützend vor den großen stellt, um Pater Eberhard abzuwehren. Und irgendwann: Das Licht geht aus. Pause. Zitternde Gefühlspause. Applaus. Ganz schnell – Standing Ovations.
Missbrauch. Wer braucht was? Warum braucht er es? Was fehlt? Sex? Gewiss nicht. Macht! Wer missbraucht, instrumentalisiert. Weil es geht, weil mann es kann, sich das Recht dazu herausnimmt. Weil das Kind unschuldig ist, nicht weiß, wie ihm geschieht, nicht einordnen kann, was Unrecht ist. Weil es vertraut.
Ein Stück Realität ist es, was ich an diesem Abend so unmittelbar gesehen habe. Armin Stockerer, der den erwachsenen Martin gelebt hat. Mit rotem Kopf und Zornestränen in den Augen, auf den Knien vor seinem Peiniger, dann ihn am Kragen packend und schüttelnd, schreiend, erzählend und völlig verzweifelt ob all seiner Ausweglosigkeit. Eugen Victor, der die Zuschauer an der Kirchentür begrüßte und rein optisch irritierend glaubhaft eine Pfarrerfigur abgab. Der als Pater Eberhard mit kleinen Augen und hängenden Backen, mit eindrücklicher Stimmgewalt den Peiniger spielte. Den Peiniger und den Menschen, den Menschen und den Selbstgerechten. Und nicht zuletzt Jonas Dietrich als Kind Martin und Sohn Sebastian, der Elfjährige, der in seiner echten ersten Rolle auf ganzer Ebene überzeugte. Mit seinem blondem Schopf, der hellen, klaren Stimme und seiner starken Mimik.
Die Kirche: ein Unternehmen mit totalitärem Einschüchterungssystem
Regisseurin Elke Maria Schwab hat Felix Mitterers Stück ganz klar inszeniert. Keine Ablenkung, das Wort ist das Wesentliche. Die Worte … sie sind direkt, verheimlichen nichts und gehen dennoch nicht so sehr ins Detail. Es genügt. Der Zuschauer weiß. Und die Gratwanderung ist zwar schmal, aber sie gelingt – denn: Was ist ein Tabuthema? Darf man das Ergehen des Missbrauchenden anschauen? Gar ein Verständnis entwickeln? Unbedingt. Verstehen heißt nicht Gutheißen. Warum also wird missbraucht? In vielen Fällen: Weil die Täter selbst missbraucht wurden. Die Opfer werden zum Täter. Man will es wieder eindeutig einordnen, um dieses kleine Gefühl von Sicherheit zu haben. Opfertäter? Pädophil? Täteropfer? Abartig? Krank? Was, was, was nun? Die Frage bleibt offen …
Gut, dass die Kirche verschwiegen ist. So sagt er es, der Pater Eberhard. Ja, das ist sie, die Kirche. VERSCHWIEGEN. DIE KIRCHE. Missbrauch in der katholischen Kirche und der Umgang damit – leben wir tatsächlich in einer säkularisierten Welt, wo allein das Gesetz gilt? Oder ist es auf dem Land nicht doch so, dass die Scheinmoral einen beträchtlichen Teil der Alltagswirklichkeit ausmacht? Wo die Frauenbundfrauen und Pfarrsekretärinnen ihrem Herrn Pfarrer gern hinten hineinkriechen, brave Buben ministrieren müssen, Leute folgsam ihre Messen und Ämter eingeben und man das Höllenfeuer fürchtet? Wo sich Pfarrer einfach immer wieder erlauben, was sie wollen, weil sie die Herrscher ihrer Schäfchen sind?
Freilich bietet sich die Thematik geradezu an, vom Hundertsten ins Tausendste zu kommen. Es drängt sich geradezu auf, die Missstände der katholischen Kirche aufzulisten. Wieder und wieder. Weil ihr zwar immer mehr Schäfchen den Rücken zukehren, aber weil sie gleichzeitig immer noch so mächtig ist. Und zwar aus dem Grund, weil sie ein Unternehmen ist, ein Unternehmen mit totalitärem Einschüchterungssystem.
Nimmt denn tatsächlich jemand Kinder als vollwertige Menschen wahr?
Missbrauch. Freilich kein Thema, das allein die katholische Kirche betrifft. Missbrauch an Kindern geschieht überall. Im Elternhaus. In sämtlichen Institutionen, in denen Kinder Schützlinge sind. Ja, Schützlinge, schützenswerte Menschen. Und wieder die Frage nach dem Warum. Warum tun sie es, was sie nicht dürfen? Weil sie auch Menschen sind, weil sie krank sind, weil …? Das Thema ist so alt wie die Menschheit selbst. Aber der Mensch … er ist doch ein moralisches Tier. Es kommt darauf an, wie mit dem Thema umgegangen wird. Es geht um schonungslose Offenheit, um Gerechtigkeit, um Verständnis, um echte Aufarbeitung.
Missbrauch. Auch in meinem persönlichen Umfeld wurde missbraucht. Dazu kenne ich dutzende Geschichten von Missbrauchsfällen. Immer wieder passiert es. Eine Möglichkeit, das zu verhindern? Freilich, die Kinder stärken. Gleich hört es sich wieder an, wie eine Floskel. Die Kinder stärken. Ihnen vermitteln, dass ein Nein okay st. Nicht mit Fremden mitgehen, keine Süßigkeiten annehmen. Ja, dabei sind es eben allermeist nicht diese Fremden … Die Kinder ernst nehmen, wenn sie sich anvertrauen. Die Kinder ernst nehmen! Ja, nimmt denn tatsächlich jemand Kinder als vollwertige Menschen wahr? Freilich, sagen sie, die Leute. Aber ich glaube es nicht, dass sie es auch so meinen. Kinder, das sind die kleinen Menschen. Und wir sind die Großen, die meinen, die Lebenserfahrung und -weisheit mit den Löffeln gefressen zu haben. Wir sind die großen Autoritäten, die sagen, wo es lang geht. Die Kinder sollen es aber beim Thema Missbrauch sein, die die Grenzen aufzeigen und Nein sagen? Das passt doch hinten und vorne nicht zusammen …
Reden wir drüber. Sagen Sie was dazu!
Ich zerbreche mir den Kopf, komme auf keinen grünen Zweig und das zeigt mir: Der Stachel sitzt fest im Fleisch der Gemütlichkeit. Und das Theater an der Rott hat es wieder mal geschafft. Hat großartiges Schauspiel gezeigt und dem Zuschauer ein wichtiges Thema ganz dicht vor die Nase gehalten. Reden wir drüber. Sagen Sie was dazu! „Die Beichte“ können Sie noch am Mittwoch und am Donnerstag um 19.30 Uhr in der Spitalkirche in Pfarrkirchen sehen.
Ihr Fräulein Weiler