Zwiesel/Bodenmais. Wie ist das, wenn man blind ist? Welche Aufgaben übernimmt ein Blindenführhund? Und wie läuft es sich eigentlich auf Schneeschuhen? Dogxaid e.V., eine Selbsthilfeorganisation der Blindenführ- und Servicehundehalter, hat gemeinsam mit der Pockinger Ortsgruppe des Deutschen Alpenvereins eine Schneeschuhwanderung für blinde Menschen und deren tierische Helfer veranstaltet. Hog’n-Redakteurin Dike Attenbrunner durfte die Gruppe begleiten – und hat festgestellt: Wir verlassen uns im Alltag viel zu sehr auf das Sehen. Ein sinnenreiches Ausprobiat im Schnee.
Bodenmais, einen halben Kilometer entfernt vom Parkplatz Schönebene, auf einem Wanderweg im Wald: Es herrscht helle Aufregung bei einer 23-köpfigen Gruppe von Schneeschuh-Wanderern. Während die Frauen und Männer den Wald absuchen, rufen sie immer wieder laut nach Baxter. Doch von dem fehlt jede Spur.
Baxter ist ein Blindenführhund. Als der schwarze Labrador-Rüde den Anschluss an die Gruppe verliert, bleibt er einfach am Parkplatz sitzen – und wartet. Darauf, dass ihn Frauchen Sonja abholt. Einige der Teilnehmer versuchen, den Hund mitzunehmen, als sie ihn endlich entdecken – vergeblich. Es hilft alles nichts: Die blinde Frau muss die Strecke noch einmal zurücklaufen und ihren Vierbeiner persönlich abholen.
Blindenführhunde sind darauf trainiert, ihre Herrchen sicher durch den Alltag zu weisen und Gefahrenquellen zu umgehen. Weil ihnen das aber viel Verantwortung und höchste Konzentration abverlangt, sollen die Hunde auch einfach mal nur Hund sein dürfen. Peggy Jacob und Alexander Spörr von Dogxaid e.V. veranstalten deshalb in Zwiesel bereits zum fünften Mal eine Winterfreizeit für blinde Menschen und ihre Hunde.
Ein Glöckchen, das die Welt bedeutet
An diesem Wochenende übernehmen – wie schon die Jahre zuvor – der Alpenverein Pocking sowie einige sehende Freunde der blinden Teilnehmer die Aufgabe der Blindenführhunde. Während deren Besitzer sich langsam an die Schneeschuhe gewöhnen, toben die Hunde ausgelassen im Wald umher – ständig begleitet von einem Klingeln. Das kommt von kleinen Glöckchen, die am Halsband befestigt sind. Das Gebimmel dient den Blinden als Orientierung: so haben sie ihre Hunde immer „im Ohr“ – auch wenn sie Freizeit haben.
Trotzdem ist es eher ein verhaltenes Spielen. Baxter und seine Spielkameraden kehren immer wieder zur Wandergruppe zurück, suchen schnuppernd nach ihren Herrchen und kontrollieren, ob die sehenden Kollegen ihre Sache auch wirklich gut machen.
„Wie sehr wir uns doch auf den Sinn des Sehens verlassen!“
Auch der Golden Retriever Paul macht ab und an einen Abstecher an die Spitze der Truppe, zu seinem Helmut. Der blinde Mann geht ein strammes Tempo. An die Schneeschuhe, die einen etwas schlurfenden Gang verursachen, hat er sich schnell gewöhnt. Dass er nichts sehen kann, merkt man ihm kaum an. Sein Begleiter ruft ihm ab und zu ein paar Kommandos wie „links“ oder „weiter rechts“ zu – ansonsten ist er vornehmlich damit beschäftigt, die Sportskanone immer wieder einzuholen.
Überhaupt funktioniert die gesellige Wanderung erstaunlich unkompliziert – keine Spur von Berührungsängsten. Auch wenn sich einige Teilnehmer erst seit ein paar Stunden kennen. Es wird viel gelacht, erzählt – und bei einer Pause stößt man gemeinsam mit einem giftgrünen Kräuterlikör aus dem Erzgebirge auf den gelungenen Ausflug an.
Die blinden Frauen und Männer vertrauen ganz auf ihr Gehör. Verstummen die Schritte, bleiben auch sie stehen. Sind sie unsicher darüber, welche Richtung sie einschlagen müssen oder ändert sich das Gefälle, fragen sie ihren Begleiter. Aus den fragenden Stimmen hört man viel Vertrauen heraus.
Ist es einfach, einem unbekannten Menschen sprichwörtlich blindlings zu vertrauen? Peggy lacht über diese Frage. „Nein. Das Miteinander mit unseren sehenden Begleitern ist sehr offen und gänzlich unverkrampft. Da fällt es mir nicht schwer, mich auf meine Partnerin zu verlassen!“
Die 40-jährige Schriftführerin von Dogxaid e.V. ist schon fast ihr ganzes Leben lang blind. Als sie auf die Welt kam, waren die Brutkästen technisch noch nicht ausgereift. Bis in die siebziger Jahre hinein kam es deshalb, wie bei Peggy, wegen einer zu hohen Sauerstoffgabe im Brutkasten noch häufig zu einer Schädigung oder sogar Ablösung der Netzhaut des Auges, sodass die Babys noch im Inkubator erblindeten.
Während der Kindheit konnte Peggy zwar noch etwas erkennen, aber ihr Sehvermögen nahm stetig ab. Irgendwann verlor sie ihr Augenlicht dann ganz. „Nein, das war nicht schlimm“, sagt sie. „Es war ein langsamer Prozess und ich konnte mich immer wieder an den neuen Zustand gewöhnen.“
Ihre Begleiterin Annemarie schaut Peggy mit viel Respekt an, als sie das erzählt. „Ich merke erst wieder während dieser Wanderung, wie sehr wir uns auf den Sinn des Sehens verlassen“, sagt Annemarie. „Wenn ich meine Augen schließe und mich nur auf mein Gehör verlassen, fühle ich mich total verunsichert! Ich reiße meine Augen beim ersten Fehltritt sofort wieder auf! In unserer Welt konzentriert sich alles immer nur auf das Sichtbare. Die anderen Sinne verkümmern regelrecht. Eigentlich schade …“ Nachdenklich schaut sie Peggy an. Die Sehenden, vor allem diejenigen, die zum ersten Mal an einer Schneeschuhwanderung mit Blinden teilnehmen, lernen an diesem Wochenende viel dazu.
„Ein Blindenhund ist mehr als nur ein Hilfsmittel, er ist ein Partner“
Sie sehen zum Beispiel, wie viel Mobilität der Hund einem Blinden verleiht. „Mit Ella komme ich im Straßenverkehr sehr viel schneller vorwärts“, bestätigt Peggy, die am Landratsamt Nordsachsen als Teilzeitkraft 30 Stunden in der Woche als Sekretärin im öffentlichen Dienst arbeitet. „Sie bleibt an den Ampeln stehen und schützt mich vor Hindernissen. Sie ist aber mehr als nur ein Hilfsmittel, sie ist ein Partner.“ Ella ist bereits der zweite Blindenführhund, den sie hat. Die sanftmütige Hündin mit dem seidenglatten schwarzen Fell ist ebenfalls ein Labrador. Eine Hunderasse, die bevorzugt zum Blindenführhund ausgebildet wird.
Auch wenn es grundsätzlich bei der Rasse keine Beschränkungen gebe, erklärt Dogxaid-Vorsitzender Alexander Spörr, dürften Hunde mit hohem Aggressionspotenzial keinesfalls zum Blindenführhund ausgebildet werden. „Ein Labrador eignet sich nicht nur deswegen so gut für diese verantwortungsvolle Aufgabe, weil er eine optimale Schulterhöhe hat – es handelt sich dabei auch um sehr belastbare, intelligente und friedfertige Hunde“, sagt der 43-Jährige, der freiberuflich in der Computer- und Internet-Branche tätig ist. Bis auf einen Belgischen Schäferhund und einen Golden Retriever sind an diesem Wochenende ausschließlich Labradore mit von der Partie.
Die Wanderung schafft Freiräume für die nicht-sehenden Sinne
Vor allem der Belgische Schäferhund kann einem während dieser Schneetour schon etwas leidtun: Mit seinem dichten langen Fell fängt sich der Rüde namens Arek einen Eisklumpen nach dem anderen ein. Seine Herrchen haben alle Hände voll damit zu tun, ihn immer wieder von den lästigen Mitbringseln zu befreien.Doch das weitaus Schlimmere für ihn ist, dass er ständig Eis an und unter den Pfoten hat – was ihn unheimlich einschränkt.
Nach drei Stunden verstummen die Gespräche. Nur die Schritte der Schneeschuhwanderer und das leise Klingeln der Glöckchen sind noch zu hören. Alle konzentrieren sich auf das letzte Stück der Wanderung. Die klirrende Kälte und die ungewohnten Bewegungen mit den Schneeschuhen fordern ihren Tribut. Eine angenehme Ruhe macht sich in der Gruppe breit – und lässt Freiraum für die nicht-sehenden Sinne: Die Haut genießt die Sonnenstrahlen, die vereinzelt durch das Dickicht der Bäume gelangen. Die Ohren hören das Knirschen der Schritte im gefrorenen Schnee. Und die Nase riecht die klare frische Luft und den holzigen Duft der Bäume.
Als das Langlaufzentrum am Bretterschachten, das Ziel nach der sechs Kilometer langen Wanderung, in Sichtweite liegt, beginnen die Unterhaltungen wieder: Sie drehen sich vornehmlich um das bevorstehende Abendessen. Die Winterfreizeit ist noch nicht beendet. Mit dem Bus geht es zurück in die Pension Inge in Zwiesel.
Dort verbringen die Teilnehmer noch den Abend und den nächsten Tag miteinander. Ist es schwierig, Unterkünfte zu finden, in denen Hunde erlaubt sind? „Nein, eigentlich nicht“, meint Alexander. „Vor allen Dingen dann nicht, wenn die Pensionsbetreiber sehen, wie unkompliziert die Blindenführhunde sind. Man sieht sie nicht, sie bellen kaum und sie nehmen sehr viel Rücksicht auf andere.“
Die Hunde lassen ihre Herrchen nicht aus den Augen
Sehr deutlich wird das während der Fahrt im Bus. Die Teilnehmer fahren mit dem Skibus, der täglich zwischen Zwiesel und den Bretterschachten am Arber verkehrt. Die Langläufer und Wanderer, die an den Haltestellen einsteigen, sind zunächst etwas skeptisch und zurückhaltend als sie die sechs Hunde erblicken. Gerade zu den schwarz- und braunhaarigen Vierbeinern halten sie Abstand. „Das ist nicht ungewöhnlich“, sagt Peggy.
„Viele Blinde wollen deswegen unbedingt einen blonden Hund haben, weil die Leute den eben als freundlicher und weniger angsteinflößend empfinden.“ Allerdings könne das auch ganz schnell ins Gegenteil verkehren, wirft Alexander ein: „Es passiert nicht selten, dass die Leute den Hund einfach ungefragt streicheln und knuddeln – und ihn so von seiner Aufgabe ablenken.“
„Manche Mitmenschen gehen sogar so weit und zerren den Hund am Führgeschirr über die Straße – und mich hinterher“, schildert Peggy. „Auch wenn das sicherlich nett gemeint ist: Das verunsichert einen blinden Menschen und verwirrt seinen Hund. Der braucht nämlich im Normalfall keine Hilfe.“
Auch unzählige Diskussionen darüber, ob ein Blinder seinen tierischen Kompagnon ins Geschäft mit reinnehmen darf, seien leider immer noch an der Tagesordnung, bedauert Alexander. „Die Leute wissen einfach nicht, dass Blindenführhunde immer zugelassen sind – auch dann wenn alllgemein Hundeverbot herrscht. Da muss noch viel Aufklärungsarbeit geleistet werden!“ Auch deswegen haben er und Peggy den Verein Dogxaid gegründet.
Während die Hunde es sich erschöpft unter den Sitzen ihrer Herrchen gemütlich machen, fragen einige Fahrgäste die Truppe interessiert nach ihren Vierbeinern. Sie wollen wissen, wie ihnen der tierische Begleiter durch den Alltag hilft, welche Rasse besonders für eine Blindenführung geeignet ist – und wofür diese lustigen Glöckchen eigentlich sind. Während ihre Besitzer bereitwillig Auskunft erteilen, sehen die Hunde mit einem schlafenden und einem hellwachen Auge zu. So ganz können sie sich dann doch nicht von ihrer Aufgabe lösen – auch wenn sie noch so müde sind.
Dike Attenbrunner
–> Wer mehr über Dogxaid e.V. wissen möchte, hier die Homepage des Vereins für Blindenführhunde und Servicehundehalter: www.dogxaid.org