Eggenfelden. Manchmal sind die Bilder so stark, dass ich vergesse auf das gesprochene Wort zu hören. Die Bilder, die Geräusche, die Figuren – so klar und stark und eindrücklich und schmerzhaft nahe und direkt – das ist es, was einen bei Henrik Ibsens Familiendrama „Gespenster„, intensiv inszeniert von Regisseur Johan Heß, so in den Bann zieht. Ich sage es Ihnen gleich: Dieses Schauspiel am Theater an der Rott habe ich mit nach Hause genommen, mit in mein Bett, in meine Gedanken vorm Einschlafen, in meine Träume. Und auch am nächsten Morgen waren die Gespenster noch bei mir. Die Bühnengespenster – und meine eigenen.

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Osvald (Gabriel Raab) kommt heim. Seine Rufe nach „Mama!“ gehen ans Herz. Fotos: Rupert Rieger

„Mama“: Wie ein Fisch zappelt er auf dem Trockenen, windet sich hilflos

Osvald kommt nach Hause. Wie ein Fisch zappelt er auf dem Trockenen, windet sich hilflos vor dem scheinbar unüberwindbaren Vorhang, hämmert mit den Fäusten darauf ein und schreit, dass es mir durch Mark und Bein fährt, nach seiner Mutter: „Mama!“ Dieser verzweifelte Schrei eines erwachsenen Mannes – welche Sehnsucht liegt darin! Von Innen sind die Schreie der Mutter zu hören. Frau Helene Alving wird ihren Sohn empfangen, nach Jahren. Osvald zappelt hin zu dem schrägen Holzaufbau, der eine schwimmende Insel ist. Die rettende Insel. Nur auf dieser kann sich Osvald sicher bewegen. Anderswo hat er keinen Halt unter den Füßen. Der Boden entgleitet ihm ganz einfach ständig.

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Regines (Simone Bartzick) Standardverlegenheitsgeste: Den kleinen Finger im Mund.

Osvald, der heimgekommene Sohn, wird herzlich in die Arme von Frau Alving geschlossen. Die beiden liegen engumschlungen am Boden, die Mutter bedeckt ihn schützend und vereinnahmend zugleich mit ihrem Körper. Die Mutter, die ihr einziges Kind damals weggegeben hat. Und das nun „wurmstichig“ im Kopf ist, das nicht mehr arbeiten kann, nicht mehr als Maler in Paris erfolgreich ist, sondern mit knapp 30 zurück ins Elternhaus kommt.

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Mit welchen Hoffnungen eigentlich? Und welche Hoffnungen birgt Regine? Regine, das Hausmädchen von Frau Alving, die viel mehr ist als das. Sie wartet auf eine Arbeit im Waisenheim, das Frau Alving bauen lässt. Errichtet wird es von Tischler Engstrand, Regines Vater – der dies gar nicht ist. Er weiß das – Regine nicht. Er, der sich damals für die bereits mit Regine schwangere Mutter entschieden hat – aus Großherzigkeit, aus Liebe? Schwanger von niemand anderem als Alving. Heute nicht mehr am Leben.

Aber auch im Hause Alving sind fröhliche junge Mädchen begehrt …

Tischler Engstrand (Rüdiger Bach) hat Pläne mit Regine. Während er den Akkubohrer schwingt und Regine im Kreis wirbelt, begrüßen sich Frau Alving und Osvald (links) intensiv.
Tischler Engstrand (Rüdiger Bach) hat Pläne mit Regine. Während er den Akkubohrer schwingt und Regine im Kreis wirbelt, begrüßen sich Frau Alving und Osvald (links) intensiv.

Engstrand, der mit dem Akkubohrer und schweren Stiefeln hereinspaziert, die schwimmende Insel nach und nach abmontiert und ankündigt, Regine mitnehmen zu wollen, auf dass sie für ihn arbeite – in seinem geplanten Heim für Seefahrer, weil man dort ja fröhliche junge Mädchen brauche … Aber auch im Hause Alving sind fröhliche junge Mädchen begehrt – solche, die so fröhlich und jung sind, dass sie sich ihrer Unschuld gar nicht bewusst sind, die mit ihrer Lebensfreude die Sehnsucht nach Unbeschwertheit wecken. In Osvald. Verlieben sie sich? Die Annäherungen sind rührend, behutsam, sachte, verspielt. Bis auf die eine Sache, als Osvald brüllend nach Wein verlangt und Regine in den Keller folgt, um ihr zu helfen, „den Korken zu entstöpseln“. Komisch ist das nicht. Es erschüttert.

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Heftige Gefühle zwischen Frau Alving (Birgit Zamulo) und Pfarrer Manders (Giuseppe Rizzo) – ausgelöst durch ihre nichtgelebte Liebe, Unverstandenheit, Vorwürfe. Regine (links) betrachtet das Geschehen auf ihre unbekümmerte Art.

Frau Helene Alving hat viel mitgemacht. Erschüttert ist sie auch. Das ganze Leben hat sie erschüttert in seiner Ungerechtigkeit. Und dann spaziert Pastor Manders daher und macht ihr Vorhaltungen. Spaziert herein mit seinem schwarzen Schirm. Was ist das für ein Pfarrer, der zuerst Regine äußerst unkatholisch anpackt und ihre frische Weiblichkeit anerkennt – und dann mit Frau Alving redet, als gäbe es kein Morgen. Die Vorhaltungen gehen so ins Persönliche, dass Frau Alvings Nerven entgleiten, die beiden vom Sie zum Du und wieder zurück wechseln, die ungelebten Leidenschaften und Sehnsüchte so schmerzhaft hervortreten, bis Manders schließlich schreit: „Was für ein Recht haben wir Menschen auf das Glück?“ Stille.

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Frau Alving wurde das Glück nicht zuteil, ihr Mann soff und hurte, sie schloss die Augen, ertrug, gab den kleinen Sohn weg und – konnte nicht anders? Osvald und Regine – das ist die bittere Wahrheit – sind jedenfalls Halbgeschwister. Als Frau Alving diese Bombe platzen lässt, haben Tischler Engstrand und Manders bereits das sinkende Schiff verlassen. Das Waisenheim ist abgebrannt. „Nicht versichert!“ Regine geht. Osvald verlangt nach dem Tod. „Habe ich Dich um dieses Leben gebeten?“ fragt er seine Mutter, die ihn noch ein letztes Mal in Sicherheit wiegen will. Doch der Schein muss trügen. Osvald krümmt sich nun wie ein längst verlorener Fisch. Der eiserne Vorhang schließt sich.

Die schwimmende Insel, die Farben schwarz, weiß, grau, hölzern, rot

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Das Lügengerüst wird nach und nach aufgedeckt, die schwimmende Insel sinkt und wird nach und nach verlassen: Tischler Engstrand mit Regine (links) und Manders (rechts) gehen. Wer bleibt, ist Frau Alving.

Die Bilder … Pastor Manders, gespielt von Giuseppe Rizzo, mit seinem schwarzen Schirm im prasselndem Regen, Standbild. Helene Alving, Birgit Zamulo, mit ihrem roten Kleid – das die verborgenen Leidenschaften oder auch das viele verlorene Herzblut zeigt – wie sie sich in die Strumpfhose krallt, wie sie ihr Kleid rafft, wie sie fest auf beiden Beinen auf ihrer Insel steht. Osvald, Gabriel Raab, der den Fisch so packend spielt, der stimmgewaltig am Herz rüttelt, dessen humorvolle Sehnsucht liebenswert anrührt und einmal von seiner Mutter sprichwörtlich unter den Teppich gekehrt wird.

Tischler Engstrand, Rüdiger Bach, der die schwimmende Insel nach und nach abmontiert, je weiter der Verfall des Lügengebäudes voranschreitet. Regine, Simone Bartzick, deren Verlegenheitsgesten kaum anzuschauen sind – der angewinkelte Arm mit dem kleinen Finger im Mund, das Schütteln der Hände, als wolle sie etwas wahnsinnig Ekelhaftes loswerden. Das klare Bühnenbild der Ausstatter Silke Fischer und Christian Weißenberger – die schwimmende Insel, die Farben schwarz, weiß, grau, hölzern, rot.

Sie singen immer. Sie weinen nicht. Aber sie hätten allen Grund dazu.

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Da ist einiges verschütt gegangen: Frau Alving lamentiert über verpasste Chancen, während sich Osvald und Regine sachte annähern.

Die Geräusche … Erst der prasselnde Regen. Dann dieses ständige Tropfen. Wie in ein großes Becken, mit viel Nachhall, wie in einem Kanal vielleicht auch, das stete Tropfen, das den Stein der Wahrheit höhlt. Das metallische, wahrhaft gespenstische Klirren und Sirren, das mal bedrohlich, mal angsteinflößend den Raum einnimmt. Christian Weißenberger hat gewiss den richtigen Ton getroffen. Und dann singen sie immer „Weine nicht, wenn der Regen fällt …“ Sie weinen nicht. Aber sie hätten allen Grund dazu.

Vertuschen, das ist das große Menschheitsthema. Vertuschen, um überleben zu können. Stillschweigen, um die Wahrheiten zu verdrängen. Doch sie kommen heraus, kriechen aus dem Nebel, platzen wie prall gefüllte Eiterbeulen auf. Und nichts wird je so sein wie zuvor. Ich denke an eigene Familienkreise, sie sich hie und dort in dunklen Wirbeln in die Tiefe bohren. Die Herzen zerreißen. Und heilen nie mehr.

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Es darf nicht sein: Frau Alving teilt Osvald und Regine die Wahrheit mit. Sie sind Halbgeschwister und dürfen sich nicht lieben und begehren.

Das Elend der Welt steckt in uns allen – und in manchen ganz besonders

Die Zeit heilt alle Wunden? Ich hatte den Spruch schon immer als blanken Hohn verstanden. Wenn der Stachel zu tief sitzt, ist Heilung nicht möglich. Nicht in einem einzigen Leben. Das Elend der Welt steckt in uns allen. Und in manchen ganz besonders. Wenn das Leben eins ist, dann das: „Nicht versichert!“

Begeben Sie sich tief hinein in Ibsens Familiendrama. Es lohnt sich, hin und wieder den Schmerz zu spüren. Gelegenheit dazu haben Sie noch am kommenden Wochenende, am 15, 16. und 17. März im Theater an der Rott. Da Hog’n verlost für die Sonntagsaufführung (17. März, 18.30 Uhr) zweimal zwei Karten. Schicken Sie einfach eine Email mit Ihren Kontaktdaten und dem Kennwort „Gespenster“ an info@hogn.de. Viel Glück!

Ihr Fräulein Weiler


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0 Kommentare “Ibsens Gespenster – Wenn das Leben eins ist, dann das: „Nicht versichert!“

  1. Ich hätte den Kommentar nicht treffender formulieren können. Die Schauspieler waren gespenstisch genial – wie Theater doch „verunsichert“!!!

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