Eigentlich freut man sich ja über jeden Besucher aufm Hog’n – heute bin ich mal ausnahmsweise froh, wenn Steven Tyler hier nicht mitliest. Wer weiß, was mir blühen würde, wenn er meine reißerische Überschrift zum neuesten Werk der Bostener Hardrock-Haudegen von Aerosmith mitbekäme? (hierzu verweise ich einfach auf die Episode aus “Two and a half Men” samt angeblichen Anger-Management-Problemen des Leadsängers).
Aerosmith-Reise geht eher in die Vergangenheit als in die Zukunft
Leider konnte ich mir den abgedroschenen Vergleich Tyler/Perry versus Jagger/Richards nicht verkneifen. Gerade auch die Entwicklungen der letzten Jahre liefen wieder einmal äußerst kurios parallel – angefangen bei den Solo-Eskapaden der Schlauchboot-Lippen tragenden und mit Grand-Canyon-Falten versehnen Frontmänner bis hin zur Arbeitsteilung im Songwriting.
Das Comeback-Album trägt den Titel “Music From Another Dimension” und beginnt und endet mit Soundclips, die auf eine echte Zeitreise hindeuten. Allerdings zeigt sich (wie fast zu erwarten), dass diese Reise eher in die Vergangenheit als in die Zukunft geht. Da wirkt der neue Stones-Song “Doom And Gloom” (äußerst gelungen übrigens!) richtig modern im Vergleich zum bekannten (aber auch beliebten) Handwerkszeug der Mannen um Steven Tyler.
Wenn man auch als überkritischer Nörgler gleich auf Etikettenschwindel plädiert, so beginnt das Album sehr erfreulich mit den stärksten Songs (Luv XX / Oh Yeah / Beautiful). Jahrzehntelange Songrwriting-Erfahrung, die nur noch wenige (lebende) Künstler aufbieten können, vereint sich mit schönen Ohrwürmern – gerade “Beautiful” ist trotz des wenig einfallsreichen Titels ein echter Aerosmith-Klassiker der “Neuen Dimension”.
Leider geht den etwas älteren Herrschaften im Folgenden dann doch etwas die Luft aus – die Songs zeigen unterhaltsame Ansätze (funkige-Riffs in “Out Go The Lights” und “Lover Alot”), aber: Insbesondere den schnelleren Nummern “Legendary Child” und “Street Jesus” fehlt einfach ein echter Ohrwurm-Chorus! Es fehlt an Herz! Es klingt fast so, als ob an der Stelle, die zwischen “ganz nett” und “für immer im Hinterkopf” entscheidet, gerade Tyler der letzte Funken Genialität abhanden gekommen wäre. Oder war er mit anderen Dingen beschäftigt?
Aber was diesmal nicht ist, kann ja noch werden – nicht wahr, Rick?
So wird man den starken Start und auch die überraschend abwechslungsreichen Balladen (“What Could Have Been Love” / “Another Last Goodbye”) in die nächste Hardrock-Playlist aufnehmen – der Rest wird aber trotz eines routinierten Grundniveaus wohl schnell in die Mp3-Vergangenheit verschwinden.
Gerade bei den beiden Joe-Perry-Nummern “Something” (geht so) und “Freedom Fighter” (fadester Stampf-Rock) zeigt sich der Unterschied zu den “großen” (sorry, Steven!) Glimmer-Twins Jagger/Richards: Wenn der älteste Rock-n-Roll-Pirat Keith Richards zu seinen Solo-Songs in die Saiten greift, dann stimmen zwar auch selten die Harmonien und Akkorde, aber: Es gelingt ihm immer eine unsterbliche Melodie in die Gehörwindungen zu spielen. Joe Perry müht sich redlich – aber nur im Gesamtwerk mit Tyler und der gewohnt routinierten Rhythmuskombo Whitford/Kramer bleibt er im Gedächtnis.
Alles in allem: Schön, dass man den unverwechselbaren Sound der Bostoner nicht mehr mit drögem “American Idol-”Auftritten von Tyler verbinden muss – und die Reise in die alte Dimension der 90er Jahre insgesamt gelingt. Vielleicht hätte man mit Hilfe eines routinierten außenstehenden Produzenten noch etwas den rauheren Sound der 70er einfangen und damit ein paar Ohrwürmer mehr produzieren können … aber was diesmal nicht ist, kann ja noch werden. Rick Rubin, übernehmen Sie!
Josef Massinger