Fehlende Arbeitserlaubnis erschwert die Integration
Wer oder was hindert Flüchtlinge an einer eigenständigen Integration?
Mathias: Zunächst gibt es, wie bereits erwähnt, die so genannte “Residenzpflicht”, die im ganzen Bundesgebiet gilt. Das bedeutet, Flüchtlinge dürfen ihren Bezirk oder ihr Bundesland nicht verlassen. Oft müssen sie eine kostenpflichtige Genehmigung beantragen und müssen eine Strafe zahlen, wenn sie es nicht tun. Hessen ist das einzige Bundesland, das die Gesetzgebung im Moment überdenkt. Zudem gibt es seit dem so genannten “Asylkompromiss” in den 90er Jahren das Asylbewerberleistungsgesetz. Erst vor kurzem hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass der Geldbetrag, den ein Flüchtling monatlich bekommt, angehoben werden muss. Seit der Einführung vor 20 Jahren hatte sich dieser bisher kein Stück verändert.
Astrid: Und die Unterbringung in Lagern stellt ebenfalls ein großes Hindernis bei der Integration von Flüchtlingen in die Gesellschaft dar. Sie werden einfach rigoros vom kulturellen und sozialen Leben abgeschnitten, indem man ihnen Deutschkurse verwehrt und ihnen die Arbeitserlaubnis verweigert.
Um Vorurteilen vorzubeugen: Warum suchen die meisten Flüchtlinge Schutz in Deutschland?
Astrid: Was man sich zunächst klarmachen sollte, ist, dass es keine Flucht ohne Grund gibt. Die Menschen fliehen vor (Bürger-)Krieg, Unterdrückung, politischer Verfolgung, wirtschaftlichem und sozialem Elend. Ich denke nicht, dass wir uns anmaßen dürfen, zu entscheiden, dass einer dieser Gründe es nicht wert wäre zu helfen. Alle diese Menschen haben ihre Heimat verlassen, einen langen schwierigen Weg hinter sich, der viel weiteres Leid mit sich gebracht hat – und kommen dann hier an und erfahren zum großen Teil weiteres Elend und Ablehnung.
Viele glauben, dass Flüchtlinge nur zum „Schmarotzen“ kommen
Stichwort „Willkommenskultur“: Gilt die nur für „ausgewählte“ Ausländer – und nicht für Flüchtlinge?
Astrid: Die Qualifikation kann in vielen Fällen nicht entscheidend sein, da die meisten Flüchtlinge nicht ungebildet sind. Man muss sich überlegen, wer sich überhaupt so eine Flucht leisten kann. Das sind die Bessergestellten in ihren Herkunftsländern, die nicht selten hoch qualifiziert sind. Ich denke, dass dem Deutschen nähere Kulturen, Menschen aus europäischen Ländern, bessere Chancen haben.
Mathias: Einem Flüchtling haftet oft das Vorurteil an, dass er angeblich nur zum Schmarotzen kommt. Die Zahlen für Asylbewerber sind allerdings in den letzten Jahren relativ konstant gesunken. Lediglich nach dem so genannten „arabischen Frühling“ sind in Deutschland die Zahlen 2011 wieder leicht angestiegen.
Was muss sich in Deutschland und in Bayern unbedingt an der Flüchtlingspolitik ändern?
Mathias: Die Politik sollte neue Entscheidungen treffen. Vor allem muss sie die Menschen aus der Isolation herausholen. Es kann nicht sein, dass jemand jahrelang auf eine Entscheidung warten muss und dann erst klar ist, ob sie oder er integriert wird, oder nicht. Vor allem muss das Potenzial dieser Menschen erkannt werden. Oft kommen die Leute bereits mit Fähigkeiten bei uns an – und sind außerdem lernwillig. Hier wird ihnen allerdings immer wieder das Signal vermittelt, dass es kaum eine Chance für sie gibt. Das Argument, dass Deutschland angeblich so viele Flüchtlinge aufnimmt, wird ganz schnell entkräftet, wenn man die Zahlen in Relation zu den Bevölkerungszahlen stellt. Dann wird klar, dass wir absolut unter Zugzwang stehen, mehr Menschen aufzunehmen.
Flüchtlinge in Bayern protestieren gegen Zustände in Flüchtlingsheimen
Viele Flüchtlinge in Bayern protestierten in letzter Zeit mit Hungerstreiks und Demonstrationen gegen die Zustände in Flüchtlingsheimen. Wird das von den Regierenden wahrgenommen?
Mathias: Interessanterweise ist die Diskussion erst kürzlich wieder angestoßen worden, weil nach dem Freitod eines iranischen Asylbewerbers in der riesigen „Gemeinschaftsunterkunft“ in Würzburg viele Flüchtlinge in Deutschland Protestcamps errichtet haben, zunächst in Würzburg und danach in anderen Städten. In Würzburg gingen die Protestierenden sogar so weit, dass sie sich ihre Münder zugenäht haben und in den Hungerstreik getreten sind. Viele Unterstützer haben das kritisch gesehen. Tatsächlich aber hat der sich anschließende gemeinsame Fußmarsch nach Berlin eine enorme mediale Unterstützung erfahren – und es gab eine aktuelle Stunde im Bundestag. Flüchtlingsselbstorganisation gibt es in Deutschland seit über einem Jahrzehnt, aber es ist doch mehr als verwunderlich, dass die Politik erst reagiert, wenn die Betroffenen zu solch drastischen Mitteln greifen. Außerdem gab es, wie bereits erwähnt, die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Asylbewerberleistungssystem.
Mit welchen Ängsten leben Flüchtlinge bei uns?
Astrid: Nach unseren Erfahrungen ist das Gravierendste wohl die ständige Angst vor der Abschiebung. Das geschieht nicht selten in einer polizeilichen Nacht- und Nebelaktion. Hinzu kommt, dass die meisten Flüchtlinge aufgrund des Erlebten unter posttraumatischen Belastungsstörungen leiden, Verfolgungsängste haben und einfach keine Zukunftsperspektive sehen.
Mathias: Ich glaube, so etwas kann dich verrückt machen. Viele sind schon seit Jahren da – und warten einfach nur. Das ist Gift für eine Persönlichkeit, die zum Teil bereits in einem Kriegsgebiet traumatisiert wurde. Gerade im aktuellen Fall Afghanistan bangen junge Männer in Bayern vor einer Abschiebung, weil das bayerische Innenministerium denkt, sie würden gut in Afghanistan zurechtkommen.