Spiegelau. Sein Lieblingsplatz ist am Fenster. Von dort aus beobachtet er, was vor dem Haus vor sich geht. Im Hintergrund läuft das Radio. Johann Lindner möchte immer auf dem neuesten Stand sein, wissen, was passiert in der Welt und in seiner näheren Umgebung. Am 15. November wird ordentlich was los sein in der Waldschmidtstraße in Spiegelau – und er ist der Grund dafür, denn: An diesem Tag feiert der rüstige Mann gemeinsam mit seiner Familie und vielen Freunden seinen 100. Geburtstag.
Johann Lindner wurde in der Regierungszeit von Kaiser Wilhelm II geboren, erlebte den Ersten und Zweiten Weltkrieg hautnah mit und war Zeuge des Wirtschaftswunders. Sein Leben war geprägt von harter Arbeit, Verzicht und Bescheidenheit – aber auch von zahlreichen freudigen Ereignissen. Es verwundert also nicht, dass der 100-Jährige viel zu erzählen hat. Das einzige, für das er keine Erklärung hat, ist das Geheimnis, wie er so alt geworden ist. Sein Sohn Hans vermutet: „Er trinkt jeden Tag sein Radler – und ab und zu einen Eierlikör.“
Das Licht der Welt erblickt Johann Lindner am 15. November 1912 in Rossbach (Lkr. Rottal-Inn). Schon mit sieben Jahren muss er gemeinsam mit seinen 12 Geschwistern den Tod seiner Mutter Maria hinnehmen. Ein schwerwiegender Verlust für den kleinen Bub. Sein Vater Franz Paul, ein Friseur, heiratet später erneut. Es folgen nochmals 5 Geschwister. Mit 12 Jahren wird Johann Lindner Knecht auf einem Bauernhof in Hoyersdorf (Sachsen), wo auch sein Bruder Joseph angestellt ist. Noch vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges verschlägt es ihn nach Spiegelau, er arbeitet da ebenfalls auf einem Bauernhof. Noch ehe er dort Rosa Maier am 5. Juni 1938 heiratet, schenkt sie ihm mit Siegfried den ersten Sohn.
Ein Kapitel seinen Lebens, das Johann Lindner nur ungern anspricht, ist der Zweite Weltkrieg. Zuerst in Frankreich und später im Osten eingesetzt, gerät er nach Kriegsende in Russland in Gefangenschaft. Der junge Mann hat Glück im Unglück: Er wird Schuhmacher für Offiziere. Trotzdem muss er bis 1949 in Russland bleiben. Eine Zeit voller Schmerz, Angst und Heimweh.“ Als der dann zuhause angekommen ist, haben ihn seine Verwandten kaum wiedererkannt“, erzählt Sohn Hans. „Es war keine einfach Zeit für meinen Papa.“
Doch schnell lebt sich der Kriegsheimkehrer wieder ein, arbeitet als Sägewerker und verwirklicht sich den Traum von den eigenen vier Wänden. Mit Sohn Hans, der am 21. Dezember 1951 geboren wird, ist auch das Familien-Glück endgültig perfekt. Neben Arbeit und Familie bleibt nicht viel Zeit, trotzdem engagiert sich Johann Lindner auch in der Dorfgemeinschaft, wird Gründungsmitglied und Kassier des EC Edelweiß Spiegelau. Zudem ist er bei der Feuerwehr und beim Krieger- und Soldatenverein aktiv. Er fühlt sich wohl im Bayerischen Wald, eine Rückkehr in seine Heimat Rossbach kommt für ihn nie in Frage. Ein schwerer Schicksalsschlag ist für Johann Lindner dann der frühe Tod seines Sohnes Siegfried und der Verlust seiner geliebten Frau Rosa.
Dennoch hat der 100-Jährige – übrigens einer von zwölf im Landkreis – seine Lebensfreude und seinen Humor nie verloren. Fragt man ihn nach seinem Alter, antwortet er mit einem breiten Grinsen: „80!“ Man glaubt es ihm. Denn immer wieder besucht er Bekannte in Hoyersdorf und Rossbach, zuletzt urlaubte er in Italien und machte einen Ausflug in den Bayern-Park. Johann Lindner ist gern unter Leuten und feiert gern. Selbst eine schwere Gallen-OP konnte ihn davon nicht abhalten. Und an seinem großen Tag, an seinem 100. Geburtstag, geht’s ins nahegelegene Wirtshaus zum Feiern. Gemeinsam mit seinen Verwandtschaft, darunter drei Enkel und vier Ur-Enkel, wird er auf viele weitere Jahre anstoßen – und zwar mit einem Bier und einem Schnaps – wie er es immer gemacht hat.
Helmut Weigerstorfer
Bilder von der Geburtstagsfeier: