Fangen wir mal beim einfachsten an: Kennt und hört man nur den auf Platte (oder digital) konservierten Dylan, begegnet man auf der aktuellen Scheibe einer musikalisch hervorragenden Band, die sich den gelungenen Kompositionen des Altmeisters leidenschaftlich widmet. Dass Bob einer der größten Songwriter der Geschichte ist, dürfte angesichts der Vielzahl und Klasse an Cover-Versionen jedem zu Ohr gekommen sein. Hier beginnt auch schon das Kuriose – viele kennen seine Songs, haben aber noch nie die Originalversionen selbst gehört („Knockin’ On Heaven’s Door“ und „Like A Rolling Stone“ grüßen).
Eine kleine Sensation, wie sich Dylan immer mehr zu öffnen scheint

Auf der Bühne häufig schwer einschätzbar: Man freut sich, wenn man am Ende eines Songs erahnen konnte, was er denn nun jetzt wieder gespielt hat … Foto: Sonymusic
Ja, wo gibt’s denn so was? Ausgebuffte Musiker, tolle Song-Strukturen und obendrauf Texte, die knapp am Literaturnobelpreis vorbeischrammen? Hört man nur „Tempest“ mit seinen zehn kompakten, eingängigen Songs, so scheint zwar nicht gerade Caruso die Vocals einzusingen, aber alles ist angenehm rund und durchgängig unterhaltsam. Betrachtet man also diese aktuelle Songansammlung losgelöst, so kann man nur von zeitlos schöner Musik für alle berichten. Kaufen!
An dieser Stelle kommt (wie oft im Leben) der Haken. Oder auch die Spannung, je nach Sichtweise.
Es ist nämlich geradezu eine kleine Sensation, dass sich Dylan (beginnend mit den letzten Alben) auf seinen Scheiben immer mehr zu öffnen scheint und es wohl mittlerweile mit seinem Gewissen vereinbaren kann, einfach „nur“ noch große Musik zu machen – ohne allzu sehr anzuecken oder zu provozieren.
Einordnen kann man es erst, wenn man seine Live-Shows kennt. Vor weniger als einem Jahr gab er eine große Doppel-Tour mit Mark Knopfler, die gezeigt hat, dass Dylan auch heute nicht immer Dylan ist. Vielmehr ist er „onstage“ dafür berühmt und berüchtigt, sich wild durch seine gefühlt hundertjährige Geschichte zu manövriern und es dabei tunlichst zu vermeiden, einen Song zweimal auf die gleiche Weise vorzutragen. Insbesondere durch die stimmliche Darbietung gelingt ihm dies ein ums andere mal. Kurz gesagt: Er knödelt und grummelt vor sich hin, wie es eigentlich nur ein echter Bayer in Grantel-Laune hinbekommt. Oft freut man sich, wenn man am Ende eines Songs erahnen konnte, was er denn nun jetzt wieder gespielt hat …
Nach Abschluss der Grundausbildung heißt es: Ab zum Konzert!

Er knödelt und grummelt vor sich hin, wie es eigentlich nur ein echter Bayer in Grantel-Laune hinbekommt. Foto: Sonymusic
Wer ihm unvorbereitet leibhaftig gegenübertritt wird sich die Augen reiben. Oder (wie es traurigerweise viele Knopfler-Fans vorgemacht haben) mit den Füßen entscheiden und den Saal vorzeitig verlassen. Wer sich aber auf die „comfort zone“ der Platten beschränkt, verschenkt die Chance eine größere Dimension dieses Musikgenies zu entdecken, die sich zwar nicht gleich auf den ersten Blick erschließt, aber jeden Auftritt einzigartig und spannend macht.
Schlussendlich: Zum Einstieg oder Wiedereinstieg gibt es kaum eine bessere Gelegenheit, sich dem Mythos zu nähern. Eingängiger und leichter hat es uns Normalsterblichen der große Bob schon lange nicht mehr gemacht. Nach Abschluss dieser Grundausbildung: Ab zum Konzert! Im Zeitalter des „durchchoreographierten einheits90minutenkonzerts“ ein Genuss für Fortgeschrittene … wenn er noch irgenwann mal auf sein striktes Fotografierverbot verzichten würde …
Josef Massinger