Eigentlich wäre es ja die Aufgabe von Kollegin Attenbrunner gewesen, die neue Platte von Melissa Etheridge zu rezensieren, sie zu zerfieseln, zu kritisieren und sie nach allen Regeln des Feuilletons auseinander zu nehmen. Doch da meine holländische Hälfte jüngst in ihrer Heimat den wohlverdienten Urlaub verbrachte, wurde mir (vertretungsweise) dieses Vergnügen zuteil.
Die Rockröhre aus dem Mittleren Westen der USA hat sich gut gehalten
Um gleich einmal die böse Zunge, die einem gelegentlich angedichtet wird, sprechen zu lassen: Melissa Etheridge, Jahrgang ´61, gehört bestimmt zu denjenigen Musikern, die’s einfach nicht lassen können. So wie die Stones oder die Scorpions und was weiß ich noch wer. Die auch noch mit 60, 70 oder 80 auf der Bühne stehen, weil sie’s ohne den Ruhm und das Publikum (und ohne das Geld??) nicht aushalten würden. Auch mit Krücken, Rollator oder ähnlichen altersgerechten Fortbewegungsmitteln, wenn’s sein muss … Aber: Warum eigentlich auch nicht? Soll’n se doch, sin se wech von da Straße …
Aber lassen wir das – und lassen auch die gute Zunge zu Wort kommen: Mit ihren 51 Jahren sieht Goldlöckchen Melissa immer noch blendend aus. Ein echtes Vollweib, harte Schale, weicher Kern. Männerschwarm, zweifelsohne. Auch ihre markante Stimme hat auf „4th Street Feeling“ nichts von ihren typischen Merkmalen verloren: mal rau, mal weich, manchmal kratzig, stets rockig. Zwar nicht mehr so wild wie zu Zeiten von „Like the Way I Do“ und „Bring Me Some Water“, aber immerhin. Man(n) kann sagen: Die Rockröhre aus dem Mittleren Westen der USA hat sich gut gehalten. Musikalisch wie optisch.
Die „4th Street“ liegt mitten in Leavenworth, im US-Bundesstaat Kansas: Ein kleines Kaff mit 25.000 Einwohnern, das allenfalls für sein Gefängnis und den Stützpunkt der Army über die Staatsgrenzen hinaus bekannt ist. Es ist Melissa Etheridges Heimatstadt und jener Ort, auf den sie im Titel ihres 12. Studioalbums anspielt. Beim Blues getränkten „Kansas City“ mit seinen Mundharmonika-Parts begegnet einem die Sängerin im Auto, am Steuer von „my old man’s Delta 88“, Papis Schlitten, und sie lässt die Roadtrips jener Tage noch einmal stattfinden, mit all ihren „Lucky Charms, Tic Tacs, and Mom’s amphetamines“. So nimmt die kesse Blonde, die Leavenworth vor langer Zeit verließ, um nach Hollywood zu gehen, dieses Mal also Kurs in die entgegengesetzte Richtung, kehrt zurück in ihre Heimat. Das neue Album ist somit zweierlei: Ein Trip in die Gegend, aus der sie stammt. Und ein Trip in die musikalische Zukunft, die vor ihr liegt.
Das Außergewöhnliche sucht man leider vergeblich auf der „4th Street“
Was es am Straßenrand dieses Trips so alles zu sehen gibt? Ganz einfach: Definitiv jede Menge Melissa Etheridge. Wie sie mit ihrer Western-Gitarre und ihren Cowboy-Stiefeln im aufgewirbelten Wüstensand „A hundred Miles to go to Kansas City“ in die Weite hinausträllert. Wie sie lässig-leger, zufrieden und völlig entspannt in ihrem 70er-Jahre Chevrolet El Camino die „4th Street“ entlang fährt und bekannten Gesichtern von früher mit dem gewissen Feeling freundlich zuwinkt. Wie sie in „Falling Up“ mit viel Lebensfreude in die Mundharmonika bläst – und sich mit neuer Energie auf zu neuen Abenteuern macht. Wie sie sich in „Shout Now“ buchstäblich die Seele aus dem Leib schreit und fast verzweifelt nach Erlösung fleht, Erlösung von diesem „bösen Traum“ und den vielen Schattenseiten, die das Leben so schreibt … Drama, Freude, Melancholie, Romantik – mal mit leisen mal mit lauten Tönen, mal rockig, mal „country-ig“, mal soulig, mal traurig – es fehlt so gut wie an nichts auf der neuen Scheibe.
Doch vielleicht ist genau das das Problem: Melissa Etheridges Trip birgt eigentlich nichts Außergewöhnliches, nichts Besonderes. Bei keinem der Songs kommt einem in den Sinn: „Wow! Jetzt will sie’s aber nochmal wissen!“ oder: „Wahnsinn! Warum hat sie uns darauf so lange warten lassen!?“ Man hat eher so das Gefühl: „Antenne Bayern auf Dauerschleife“ oder: „Irgendwie alles schon mal gehört …“ Von Experimentierfreudigkeit und dem Versuch, tatsächlich nochmal etwas Neues auszuprobieren, fehlt nahezu jede Spur. Kein wirkungsvoll-bleibender Abdruck im Wüstensand von Kansas wird hier hinterlassen, sondern vielmehr ein ohnehin schon ausgetretener Pfad noch mehr ausgetreten.
Mein Fazit lautet daher: Für echte Melissa Etheridge-Fans ist dieses Album bestimmt eine Bereicherung und darf in keinem CD-Regal fehlen. Sie bekommen genaus das, was auf der Verpackung vorne draufsteht. Denjenigen, die den ersten Kontakt zur Grande Dame des Country-Rocks suchen und mit dem Gedanken spielen sich ihr neues Album zuzulegen, sei gesagt: Erst mal abwarten und Radio hören …
Stephan Hörhammer