Waldkirchen/Oberstdorf. Eben hat er noch im Trainingslager in Oberstdorf die letzten Sprünge absolviert, schon steht er im Waldkirchener Rathaus für einen nicht weniger sportlichen Auftritt bereit: Bayerwald-Skiadler Severin Freund hat sich ins Goldene Buch der Stadt eingetragen – als Silbermedaillen-Gewinner in der Teamwertung bei der Skiflug-WM 2012 im norwegischen Vikersund. Der Termin hätte eigentlich schon stattfinden sollen, doch aufgrund einer Bandscheibenoperation an der Lendenwirbelsäule, die sich der 24-Jährige im April unterzogen hatte und ihn zu einer längeren Zwangspause nötigte, wurde der Empfang erst jetzt nachgeholt.
Im Interview mit dem Hog’n spricht Severin Freund über die verletzungsbedingte Auszeit von seinem „Hauptlebensinhalt“, sein Studium in Ansbach, das Klischee von den hungernden Skispringern, seine persönlichen Rituale vor dem Sprung sowie seine künftigen sportlichen und privaten Ziele. Außerdem verrät er den schönsten, aber auch den schlimmsten Moment seiner bisherigen Laufbahn …
„Sich gedulden, bis man das Nicht-Springen nicht mehr aushält“
Severin, welche Bedeutung hat für Dich der Eintrag ins Goldene Buch der Stadt Waldkirchen am heutigen Samstag?
Es ist schön, wenn man erfährt, welche Wertschätzung einem aufgrund des Erfolges entgegengebracht wird. Dass man auch über den Moment des Erfolges hinaus wahrgenommen wird. Das durfte ich letzte Saison bereits erleben – wobei bei der Nordischen WM 2010/11 die Aufmerksamkeit noch größer war als bei der Skiflug-WM in diesem Jahr. Außerdem konnte ich in jener Weltcup-Saison zwei Siege „einfliegen“, die heuer leider gefehlt haben. Aber klar: Es ist immer schön, wenn man merkt, dass die Leute sich dafür interessieren.
Nach Deiner verletzungsbedingten Zwangspause bist Du nun wieder zurück im Training. Wie war‘s für Dich, einige Zeit auf Deinen „Hauptlebensinhalt“ verzichten zu müssen?
(lacht) Jemand sagte in der Zeit zu mir, ich müsse mich solange gedulden bis ich das „Nicht-Springen“ nicht mehr aushalte – und dann noch eine Woche warten. Erst dann könne ich mir ganz sicher sein, dass wieder alles passt. Dieser Spruch war ziemlich treffend, denn zeitweise war es wirklich hart auf das Training zu verzichten – vor allem wenn man mitkriegt, dass die Anderen springen dürfen und man selbst noch pausieren muss. Natürlich musste ich mich nach meiner OP schonen. Wobei es nicht so war, dass ich in meiner Verletzungspause gar nichts gemacht hätte … Es folgte eine sehr anstrengende Reha-Zeit, bald darauf das erste Athletik-Training. Das war im Endeffekt noch härter als das normale Training, weil man an Substanz und Kraft verliert. Gerade das „Aufholen“ war sehr stressig für mich. Dafür macht es jetzt umso mehr Spaß, weil ich merke, dass sich die Zeit des Wartens gelohnt hat – und ich mir sicher sein kann, dass alles in Ordnung ist. Wäre das nicht der Fall, würde das Springen nicht funktionieren. Man muss beim Sprung einfach alles geben können.
„Ich habe nicht das Gefühl etwas zu versäumen – im Gegenteil“
Bekanntlich ist der Leistungssport bereits in jungen Jahren sehr trainingsintensiv – und man muss auf einiges, gerade im privaten Bereich, verzichten. Hast Du das Gefühl in Deinem Leben bisher etwas verpasst zu haben?
Ich habe eher das Gefühl, dass ich durch das Skispringen wahnsinnig viele Dinge erlebt habe – und hoffentlich noch erleben werde. Dinge, die ich als Nicht-Leistungssportler vermutlich nie erfahren hätte. Das ist nur einem kleinen Prozentsatz der Menschheit vergönnt. Ich bereise die ganze Welt und sehe viel Neues. Sicher ist es nicht immer leicht, man ist viel unterwegs und vermisst das „Daheim“. Aber im Großen und Ganzen lässt sich alles gut miteinander vereinbaren – wenn man Privates besser plant als es normal üblich ist. Und wenn man Leute um sich hat, die das voll und ganz unterstützen, ist es sehr schön im Leistungssport tätig zu sein.
Du studierst „Internationales Management“ in Ansbach. Nicht gerade ein Studiengang, der viel mit Sport zu tun hat, oder? Warum hast Du Dich für ein wirtschaftlich-orientiertes Studium entschieden? Und wie lässt sich der Studienalltag mit den sportlichen Verpflichtungen vereinbaren?
Dass das Studium nur wenig mit Sport zu tun hat, stimmt so nicht ganz. Es ist zwar ein BWL-Studiengang – jedoch ausschließlich für Leistungssportler konzipiert. Das heißt: Zum Zeitpunkt des Antritts muss man Kadersportler sein. Das Studium ist mit Kursen wie Sportmanagement und Sportjournalismus gespickt, baut aber auf betriebswirtschaftliches Grundwissen auf. Ich habe bereits in der Schule den Leistungskurs Wirtschaft und Recht gewählt, da mich ein Jura-Studium gereizt hätte. Allerdings hätte sich das nicht wirklich mit dem Sport vereinbaren lassen.
Feststand, dass ich studieren will – deswegen war das Studienangebot in Ansbach eine sehr gute Lösung für mich. Dort bekomme ich die nötige Unterstützung, um Studium und Sport zeitlich unter einen Hut zu bringen. Der Mix aus Präsenzphasen und Selbststudium lässt sich gut mit dem sportlichen Alltag kombinieren. Vor allem: Ich muss in Ansbach den Sport nicht dem Studium unterordnen, denn: Wenn man Leistungssport auf hohem Niveau betreiben will, muss man das einhundertprozentig machen – ohne Abstriche.
„Dass wir hungern, um kein Gramm zuzunehmen, stimmt nicht“
Als Sportler ist es wichtig sich gesund und ausgewogen zu ernähren. Aber gerade beim Skispringen wird viel Wert auf das Gewicht eines Sportlers gelegt. In der Vergangenheit gingen Schlagzeilen von zu dünnen, sogar hungernden Sportlern durch die Medien. Wie stehst Du zu dieser Diskussion? Ist sie berechtigt? Und wie schaffst Du den Spagat zwischen richtiger, ausgewogener Ernährung und einem fitten und athletischen, aber nicht zu robustem Körper?
Dass es diese Diskussion gibt ist legitim und sicher auch verständlich, weil es ein einfaches physikalisches Prinzip ist, dass „leichter“ eben weiter fliegt. In der Vergangenheit hat es diesbezüglich einige Probleme in unserer Sportart gegeben. Deshalb finde ich es grundsätzlich gut, dass man die BMI-Regel eingeführt hat, um das Ganze ein bisschen einzudämmen. Andererseits sollte es nicht zu weit gehen, weil es ein Charakteristikum der Sportart ist. Denn wenn jemand nicht von Haus aus eher schlank ist, wird er nie auf die Idee kommen Skispringer zu werden. Sondern bereits im Jugendalter feststellen, dass das nicht funktioniert.
Aufgrund jahrelanger Erfahrung kenne ich mein Optimalgewicht, mit dem ich einerseits gut fliegen kann und nicht wie ein Stein herunter falle, das mir andererseits aber auch genug Substanz mitgibt. Man wird es schnell – durch Krankheiten oder Leistungsabfall – merken, sollte man unter dem Gewicht liegen, das man braucht um leistungsfähig zu sein. Das Finden des Optimalgewichts ist eine rein subjektive Sache. Ich habe aber nicht das Gefühl, dass ich dafür hungern müsste. Ich esse genauso meine Süßigkeiten, achte aber natürlich auf eine gesunde Ernährung. Das geht Hand in Hand im Leistungssport und ist eine Grundvoraussetzung, dass man keinen „Schmarrn“ in sich reinstopft. Aber das würde ich auch tun, wenn ich keinen Sport treiben würde. Und nochmals: Dass wir alle hungern, um kein Gramm zuzunehmen, ist ein falsche Darstellung: So ist es nicht!
„Zu wenige Leute, als dass sich ein Skigymnasium lohnen würde“
Viele Sportler pflegen besondere Rituale und haben immer einen ähnlichen Ablauf am Wettkampftag und/oder dem Vorabend. Kannst Du uns einen groben Einblick in Deine Abläufe geben und die für Dich wichtigsten kurz erläutern?
Normalerweise absolvieren wir am Tag vor dem Wettkampf ein verkürztes Krafttraining, um in der richtigen athletischen Form zu sein. Am Wettkampftag selber ist es bei mir so, dass ich versuche, alles so gewohnt wie möglich ablaufen zu lassen. Abläufe, die mir gut tun und die sich im Laufe der Zeit als förderlich herauskristallisiert haben. An der Schanze versuche ich mich dann mit Musik abzuschotten, denn immer wenn man Kopfhörer im Ohr hat, kann man sicher gehen, dass einen keiner anspricht oder stört (lacht). Ob ich feste Rituale habe? Eigentlich sind es eher banale Dinge, wie den linken Schuh zuerst anzuziehen und zu binden – und dann erst den rechten. Die Keile aber wiederum zuerst rechts reinzumachen, und dann links. Wobei das eher schon Automatismen sind, die keine tiefere Bedeutung mehr haben. Alles was gewohnt ist, macht mich stärker.
Was hörst Du denn für Musik an der Schanze?
Die Zufallswiedergabe ist an. Ich habe schon mal versucht ein Lied zu ritualisieren, aber: Einmal springt man gut damit und ein anderes Mal schlecht. Deshalb höre ich einfach wonach mir gerade ist.
Derzeit lebst Du des Studiums wegen ja in München, aber bereits in Deiner Jugend hast Du den heimischen Bayerwald verlassen, um den Sport professionell ausüben zu können. Was fehlt in unserer Region, um talentierten Jugendlichen die nötige Professionalität mit auf den Weg geben zu können und hier attraktive Trainingsbedingungen zu schaffen?
An und für sich fehlt es an nichts, um ihnen die nötige Professionalität mitgeben zu können. Was fehlt, ist etwa ein Skigymnasium, ein größerer Stützpunkt mit Schanzen. Die Skigymnasien in Oberstdorf und Berchtesgaden decken mit den Einzugsbereichen Chiemgau und Allgäu eine breite Fläche ab – weshalb von dort auch die meisten bayerischen Springer stammen. Im Bayerwald sind es vermutlich zu wenige Leute, als dass sich ein Skigymnasium lohnen würde. Ich bin von meiner alten Schule, dem Johannes-Gutenberg-Gymnasium in Waldkirchen, immer bestmöglichst unterstützt worden: Ich bekam immer frei wenn nötig und hatte stets die Möglichkeit Schulaufgaben nachzuschreiben. Dennoch ist klar, dass eine reguläre Schule nicht die Betreuung gewährleisten kann wie etwa ein Skigymnasium. Es gibt irgendwann Reibungspunkte zwischen Schule und Sport. Bei mir erfolgte der Schritt ans Skigymnasium Berchtesgaden übrigens sehr spät, da ich bis zur 10. Klasse trainingsmäßig nichts vermisst habe.
„Wenn alles automatisch läuft, kann man’s auch wirklich genießen“
Wirst Du nach deiner aktiven Laufbahn zurück in den „Woid“ kommen, um hier Dein Leben zu gestalten?
(lacht) Das muss man mich fragen, wenn meine aktive Laufbahn beendet ist. Momentan nehme ich alles so wie es kommt und versuche die ohnehin begrenzte Zeit im Sport solange wie möglich zu genießen, so erfolgreich zu sein wie es geht. Dafür werde ich alles tun. Was danach kommt, das kommt danach.
Jeder Mensch erlebt Höhen und Tiefen. Wenn Du den schönsten und den schlimmsten Moment Deiner Laufbahn benennen müsstest: Welche wären das?
Ganz weit vorne ist der erste Weltcupsieg in Sapporo, der für mich etwas wahnsinnig Besonderes war – und immer noch ist, weil ich damals schlichtweg nicht damit gerechnet habe. Ich wusste zwar, dass ich was drauf habe und richtig gut springen kann, aber ich wusste eben auch, dass ich bis dato noch keinen Podestplatz erreicht hatte. Vielleicht war ich an dem Tag auch zu überrumpelt, um es wirklich genießen zu können. Deshalb würde ich eher den zweiten Weltcupsieg als den schönsten Moment meiner Laufbahn betiteln – auf heimischem Boden in Willingen.
Es ist außergewöhnlich schön, vor einem voll besetzten Heim-Stadion zu gewinnen, wobei ich das gesamte Wochenende stark gesprungen bin, das war wie ein Selbstläufer. Wenn man als Skispringer diesen Zustand erreicht hat nicht mehr viel machen zu müssen, sondern alles automatisch geschieht, dann kann man das auch wirklich genießen.
„Niederlagen sind nur ein neuer Schritt um es weiter zu versuchen“
Und der schlimmste Moment in Deiner bisherigen Karriere?
Das ist schwierig zu sagen, weil ich noch nichts einschneidend Tragisches im Sport erlebt habe. Sicher war die Verletzung ein schlimmer Moment, aber das hat mich nie im Sinne von „jetzt geht gar nichts mehr“ betroffen. Letztes Jahr stand der Winter zwar kurzzeitg aufgrund der Rückenschmerzen auf der Kippe, ich konnte die Saison aber dann dennoch durchspringen – sogar sehr erfolgreich. Ansonsten ist jede persönliche Niederlage für mich gleich schlimm. Immer wenn man seine Ziele nicht erreicht, regt es einen auf. Das ändert aber nichts daran, dass man lernen muss damit umzugehen – im Leistungssport wahrscheinlich mehr als anderswo im Leben. Niederlagen sind nur ein neuer Schritt um es weiter zu versuchen.
In einem Werbespot heißt es: „Jeder hat etwas, das ihn antreibt.“ Ganz banal gefragt: Was treibt Dich Tag für Tag an? Und was begeistert Dich neben der Schanze?Für mich als Leistungssportler ist es zum Einen das Erfolgsprinzip: Erfolgreich sein macht einfach Spaß. Zum Anderen ist Skispringen ein wahnsinnig faszinierender Sport. Hat man einmal erlebt, wie leicht man sich in der Luft fühlen kann, will man das immer wieder erleben – und begibt sich stets von Neuem auf die Suche nach dem perfekten Sprung. Man braucht dazu keinen „Antreiber“, man muss das Gefühl nur einmal ansatzweise in sich gespürt haben, es weiter suchen und verfolgen.
Neben der Schanze begeistert mich vor allem das Studium. Ich wollte immer studieren und habe festgestellt, dass dies nicht unbedingt schlecht für den Sport sein muss. Weil ich dabei sehr gut abschalten kann und eben nicht immer nur an den Sport denke. Und für Freizeit braucht man ja keinen Antrieb. Die ist automatisch schön (lacht).
„Irgendwann bei Weltmeisterschaften ganz oben zu stehen“
Als Sportler will man erfolgreich sein, ganz klar. Aber wo siehst Du dich in zehn Jahren, wenn sich die Karriere allmählich dem Ende zuneigt? Was hast Du Dir bis dahin vorgenommen? Was sind deine Träume – sowohl sportlich als auch privat?
Es ist extrem schwierig soweit vorauszusehen. Leider findet ja Olympia 2018 nicht in München statt. Und München 2022 wäre für mich als Skispringer schon relativ spät. Mal abwarten. Bis dahin gibt es genügend Ziele, auf die ich hinarbeiten kann, wie etwa die jährlich stattfindende Vier-Schanzen-Tournee, die gerade für uns Springer aufgrund des besonderen Modus‘ etwas ganz Spezielles ist. Hier vorne dabei zu sein ist ein großes Ziel – gerade auch deshalb, weil die Tournee im eigenen Land bzw. Österreich ist. Aber auch die nächsten nordischen Weltmeisterschaften in Val di Fiemme 2013, Falun 2015 und Lathi 2017 sind interessante Wettbewerbe, die an Orten mit großer Wintersporttradition ausgetragen werden. Dort macht es bestimmt Spaß zu springen; ich habe es bei der WM in Oslo miterlebt: der absolute Wahnsinn.
Es ist ja schon toll bei den Weltmeisterschaften überhaupt dabei zu sein – aber irgendwann möchte man bei diesen Ereignissen auch mal im Einzel ganz oben stehen. Deshalb denke ich von Jahr zu Jahr, von Saison zu Saison, um mich konstant zu verbessern, um bei den Großereignissen einmal ganz vorne dabei zu sein … Und privat (lacht) kann ich sagen, dass ich zurzeit sehr glücklich bin – und sich gerne alles so weiter entwickeln darf wie in den vergangenen Jahren.
Interview: Susanne Grünzinger