Finsterau/Bučina. Mehr als zwanzig Jahre sind seit dem Fall des „Eisernen Vorhangs“ vergangen. Mit der Grenzöffnung sind damals viele unserer tschechischen Nachbarn zum Arbeiten nach Deutschland gekommen. Auch Petra Richlicki, die viele als sympathische Bedienung aus dem Café „Casablanca“ (heute ist sie im „Veicht“) in Freyung kennen, nahm 1992 im Alter von 18 Jahren ihre erste Arbeitsstelle an: beim „Hendlwirt“ in Waldkirchen. Während wir Petra auf einer Hog’n-Wandertour von Finsterau nach Bučina (Buchwald) begleiten, erzählt sie uns von der Eingewöhnung in ein fremdes Land.
„Die ersten drei Monate waren wirklich schlimm“, sagt Petra, als wir vom Parkplatz am Ortsende von Finsterau auf den fünf Kilometer langen Fuß- und Wanderweg zur Grenze einbiegen. „Ich hatte zwar Deutsch in der Schule, aber wenn du in der Küche stehst und auf einmal wieder eine andere Beilage zubereiten sollst und du kannst nicht mal den Namen auf dem Bestellzettel lesen … dann kann man schon mal verzweifeln!“ Sie habe zu der Zeit sehr viel Glück gehabt, sagt sie mit Nachdruck, weil ihr Chef und ihre Kollegen ihr immer alles ganz geduldig erklärt hatten. Dennoch habe sie sich oft alleine gefühlt, wenn sich die anderen in der Mittagspause Witze erzählten und miteinander lachten und sie mal wieder kein Wort verstand. Mehrmals habe sie da in Erwägung gezogen, wieder zu ihrer Mutter ins 70 Kilometer entfernte Heimatdorf Zlešice zu ziehen.
„Bei uns waren die Amerikaner, nicht die Russen“
„Aber da hatte ich die Rechnung ohne meine Mutter gemacht“, sagt sie lachend. Die sei nämlich anfangs gar nicht begeistert gewesen, als sie ihre sichere Arbeitsstelle in der Kantine einer Fabrik aufgegeben hatte. „‘Du hast gesagt, dass du für ein halbes Jahr nach Deutschland gehst, um die Sprache zu lernen‘, hat sie mich zurechtgewiesen, ‚und solange musst du jetzt auch durchhalten‘“, erzählt Petra. Heute ist sie darüber sehr froh. „Man muss sich das mal vorstellen in so einer Kantine: Da kochst du für über tausend Leute und jeden Tag das Gleiche kochen zu müssen, das ist nun wirklich nicht die berufliche Erfüllung!“ Dass Petra aus Tschechien kommt, merkt man der 38-Jährigen an der Sprache heute jedenfalls nicht mehr an. Im breitesten Bayerwald-Dialekt ruft sie ihren Hund zur Ordnung. Dabei ist der ein gebürtiger Tscheche.
Wir gelangen zur Grenze, eine kleine Brücke noch und wir sind drent, in Tschechien. Der Weg wird schmaler und nach einer Biegung stehen wir vor den letzten Resten des „Eisernen Vorhangs“. Ein klein wenig bedrückt bleibt Petra vor den Überresten des Stacheldraht-Elektrozauns stehen. „Letztes Jahr war ich zum allerersten Mal hier“, sagt sie. „Kaum zu glauben, was?“ Als sie noch in Zlešice lebte, war hier noch alles weiträumig abgesperrt. Militärisches Sperrgebiet. Ein Hinkommen undenkbar.
‚Ah, du nix verstehen?‘
Wie war denn ihre Kindheit? Hat es ihr zu Zeiten des Regimes an etwas gefehlt? Nachdenklich blickt Petra zurück. Nein, ihr sei es nicht schlecht gegangen. Gut, Urlaub im Ausland sei nicht möglich gewesen, räumt sie ein. Aber sonst habe sie eigentlich alles gehabt. Und die tschechischen Militärs? Petra zuckt mit den Schultern. Die seien zwar präsent gewesen, „aber das war damals einfach normal.“ Nur in der Schule habe sie öfters gemerkt, dass sie nicht die ganze Wahrheit erzählt bekommt. „Zum Beispiel am 9. Mai, dem Tag der Befreiung, dem Nationalfeiertag. Da hieß es immer: ‚Der Russe hat uns befreit, der Russe ist der Beste! ‘ Als ich das meinem Opa erzählt habe, hat der sich fürchterlich aufgeregt. ‚Bei uns ist kein einziger Russe gewesen, so ein Quatsch, da war der Amerikaner da!‘, hat er dann erbost gerufen.“
Wir setzen uns auf die Terrasse des Hotels „Alpenblick“. Viele Radfahrer und Wanderer kehren hier ein. Einmal, da sei sie in der Disco gewesen und ein Mann habe ihr eine halbe Stunde lang irgendetwas erzählt, bis sie ihm gesagt habe, dass sie nichts verstehe, erinnert sich Petra an ihre Anfangszeit in Deutschland zurück. „Und sofort fing er an, in einer komischen Babysprache mit mir zu sprechen: ‚Ah, du nix verstehen? Du nicht seien von hier…‘ Wie soll man eine Sprache denn vernünftig lernen, wenn die Leute so mit einem reden“, sagt Petra empört. Naja, und die zweite Frage sei dann gleich mal ‚Wie viel kosten?‘ gewesen. Interessante Vorurteile angesichts der Tatsache, dass es die Prostitution nahe der Grenze erst seit 1991 gab …
Sie selbst könne das mit den Vorurteilen sowieso nicht nachvollziehen. „Wir sind doch schließlich ein Woid, oder etwa nicht?“ Ob nun Böhmen oder Bayern, der Wald sei schließlich ein großes zusammenhängendes Gebiet. Dem Wolf ist es ja auch egal, ob er jetzt drent oder herent ist. „Hauptsache, er ist im Woid!“
„Der Junge glaubte, alle Tschechen sehen wie Vietnamesen aus“
Ist das mit den Vorurteilen denn nicht besser geworden? Petra überlegt. „Doch, im Großen und Ganzen schon.“ Wobei: Das letzte Mal als sie in Tschechien war, ist zum Beispiel ein älterer Mann mit zwei älteren Damen im Auto vor ihr an der Kreuzung gestanden. „Da habe ich gesehen, dass der Tankdeckel offen stand. Ich bin schnell ausgestiegen und habe ans Fenster geklopft, um denen das mitzuteilen. Aber was machen die? Schnell auf die Zentralverriegelung drücken!“ Dann sind sie einfach weitergefahren und haben sie stehen gelassen.
„Da fahren sie alle zum Tanken und Zigaretten holen zu den Tschechen rüber, und dann sind sie gleichzeitig so argwöhnisch!“ Das stimmt sie manchmal schon traurig, aber da muss man drüberstehen. Oder den Leuten zeigen, dass die Realität eine andere ist: Ein dreizehnjähriger deutscher Junge sei ganz erstaunt gewesen als sie ihm gesagt habe, sie sei Tschechin. „Der war nämlich immer mit seinem Papa beim Zigaretten kaufen und da waren sie natürlich immer nur an den Vietnamesenständen. Da hat der Junge geglaubt, dass alle Tschechen aussehen wie Vietnamesen!“
Wir brechen wieder auf. Petra zeigt uns noch eine kleine Kapelle. Sind eigentlich viele Tschechen nach der Wende bei uns sesshaft geworden? „Die meisten wollten einfach nur Geld verdienen, um in Tschechien zum Beispiel schneller ein Haus für ihre Familien bauen zu können“, meint Petra. „Die wollten möglichst bald wieder zu ihren Familien zurück.“
„Mei, die sind mittlerweile alle weitergezogen“
Hat die Wende den Tschechen denn den Wohlstand gebracht, den sie sich erwartet hatten? Die Frage kann sie nicht so einfach beantworten. Klar, viele Tschechen hätten damals schon von den deutschen Firmen profitiert, die auch Werke in Tschechien errichtet hatten. „Aber mei, die sind mittlerweile alle weitergezogen, weiter in den Osten. Es gibt auch nach wie vor Stimmen, die sagen: ‚Unter dem Kommunismus ging es uns besser, da hatte jeder Arbeit und es gab ganztägig Kinderbetreuung.‘ In Tschechien sind viele Dinge wie Zucker und Mehl teurer geworden“, erklärt Petra. Mittlerweile kämen die Tschechen deshalb wegen bestimmten Nahrungsmitteln zu uns zum Einkaufen. „Habt ihr die tschechischen Busse noch nicht gesehen, die nur zum Einkaufen zum Aldi fahren?“
Wir sind wieder auf dem Rückweg nach Finsterau und überqueren die Grenze nach Deutschland. Petra umarmt scherzhaft die Stange mit dem bayerischen Wappen. Kann sie es sich vorstellen, wieder nach Tschechien zu ziehen? „Nein“, kommt es wie aus der Pistole geschossen. „Ich liebe Tschechien und ich hänge auch voll an meiner Mama, mit der ich jeden Tag eine halbe Stunde telefoniere. Meine Heimat ist Tschechien, aber mein Zuhause ist in Deutschland!“
Dike Attenbrunner