Freyung-Grafenau. Legenden sind aus einem ganz besonderen Holz geschnitzt. Das wissen diejenigen, die das Holz über viele Jahre hinweg bearbeitet haben, ganz genau. Die Legende ist jedoch auch eine mit Märchen und Sagen verwandte literarische Gattung. Auch das wissen viele. Und genauso viele vergessen diese Eigenschaft nur allzu gerne, meist um den Erhalt der Legende willen. Davon ist Autor Hans Mirwald überzeugt. Ein Artikel über John Dillinger, der im Herbst vergangenen Jahres im Freyunger Stadtmagazin „Freyblick“ erschienen war, hatte dem gebürtigen Grafenauer diese Legende um die Herkunft Dillingers wieder in Erinnerung gerufen. Dabei ist der berüchtigte Auswanderer-Gangster Dillinger einmal mehr dem Ort Raimundsreut im Bayerischen Wald zugeordnet worden. Fälschlicherweise, wie Mirwald findet und im Folgenden zu widerlegen glaubt. Gangster-Geschichten aus dem Bayerischen Wald – oder: ois Chicago?
Doch Dillinger und Emerenz Meier eint lediglich der Sterbeort
Friedemann Fegert, Verfasser des Freyblick-Artikels „Wirtschaftsflüchtlinge“ und „Familiennachzug“ – Hunderte Bayerwaldler sind nach Amerika ausgewandert“, vertritt diese These seit vielen Jahren nachhaltig wie – bedauerlicherweise ist sie jedoch falsch. In der Beschreibung zu Fegerts Buch „Auswanderung aus den jungen Rodungsdörfern des Passauer Abteilandes nach Nordamerika seit der Mitte des 19. Jahrhunderts„ wird schon seit anderthalb Jahrzehnten mit nahezu unerschütterlicher Energie die geografische Herkunft des Gangsters Dillinger in eine Nähe zum Geburtsort der Schriftstellerin Emerenz Meier (Schiefweg bei Waldkirchen) gerückt. Dies passiert in der vertraulichen Umgebung der Abbildungen von Postkartentexten, die Angehörige von tatsächlich aus dem Bayerischen Wald Ausgewanderten verfassten. Manch Volkskundler fand Gefallen an diesem Werk – doch Dillinger und Meier eint lediglich die Tatsache, in der gleichen Stadt in den USA verstorben zu sein: in Chicago.
Aber Fegert scheint nicht der einzige zu sein, der dieser irrigen Überzeugung anhängt. Auch die Verantwortlichen des Freilichtmuseums in Massing und Finsterau lassen sich nur allzu gerne von der Realität beirren. Und so schwärmte am 24.08.2009 auch PNP-Redakteurin Petra Grond anlässlich des Starts zum Film, in dem Johnny Depp den Gangster gibt, über den konstruierten Sachverhalt: „Was Johnny Depp mit Raimundsreut verbindet“.
Manch Waidlern ums beschauliche Raimundsreut herum gefällt die wiederholte Legende. Und einigen gefällt sie auch über die Grenzen der Region hinaus. Besonders angetan könnten um Schönbrunn am Lusen bis heute die dort ansässigen Träger dieses Familiennamens Dillinger sein. Schon unter den ersten Siedlern seien sie gewesen. Ja, die Dillingers zog es wohl irgendwann an diesen Ort, so viel steht fest. Und vielleicht war der prominenteste Vertreter „ihres“ Namens eben tatsächlich dieser in der Schlagzeile wieder einmal erschossene John Herbert Dillinger? Geboren am 22. Juni 1903 und unter Einwirkung von Waffengewalt verstorben am 22 Juli 1934. Die Zeit dazwischen füllte er unter anderem mit Mord, Totschlag und Bankraub, so berichtet das FBI auf seiner Webseite in den Vereinigten Staaten von Amerika. Sein Spitzname dort: „Jackrabbit“.
Dillinger war ein notorischer und bösartiger Dieb
Doch die Zeit tut, was sie immer tut: Sie heilt alle Wunden. Sie verklärt in künstlerischen Adaptionen (Film, Punk, Literatur) die Figur John Dillingers zur brauchbaren Vorlage eines Mythos – und die Distanz zur Wirkungsstätte seiner Verbrechen braucht auch ein Bayerischer Wald nicht, um ihn untauglich für die Verehrung der Daheimgebliebenen zu machen. So funktioniert das oft und in aller Welt.
Was also sollte dann auch hier der Erinnerungskultur an einen Gangster John Dillinger, der in Chicago wütete, im Vergleich beispielsweise zu den Festen zu Ehren der Mordbrenner unter den Panduren vor Ort, entgegenstehen? Er, Dillinger, ist wohlgelitten und darf so gerne einer von „uns“ sein…
Dillinger, dessen Name dereinst die Schlagzeilen der US-amerikanischen Zeitungen dominierte, war ein notorischer und bösartiger Dieb. Zwischen September 1933 und Juli 1934 terrorisierten er und seine Bande den mittleren Westen des Landes. Dabei wurden zehn Menschen getötet, sieben weitere verletzt. Er raubte Banken aus und die Waffenlager der Polizei. Er floh dreimal aus dem Gefängnis, tötete dabei einmal einen Sheriff und verletzte bei anderen Ausbrüchen zwei Wachmänner, wie dem FBI-Bericht zu entnehmen ist.
Der Name „Dillinger“, ein Familienname aus der Gruppe der Herkunftsnamen, erlaubt einen Rückschluss auf eine ursprüngliche Herkunftsregion oder einen -ort. Ein gewünschter Zusammenhang aber zwischen der Herkunft eines Dillingers und den irgendwo verstreuten Orten, in denen heute weitere Namensvettern leben, kann ganz schnell auf Abwege führen. Und dieser Abweg liegt im Falle „unseres“ John Dillingers und dem Ort Raimundsreut vor. Woran liegt’s?
Ergebnis: Dieser Dillinger stammte nicht von „hier“
Schon ein kurzer Blick bei Wikipedia zum fraglichen Gangster Dillinger hätte einen stutzig machen können. Nicht, dass etwa in dieser Enzyklopädie alles Gold wäre, was dort zu glänzen versucht – aber zu ein wenig mehr Recherche hätte der Inhalt sehr wohl anregen müssen. Die deutsche Wikipedia nennt mit Mathias Dillinger den Großvater John Dillingers. Dieser war nach dem dortigen Eintrag (für den es jedoch bislang keine Belege gibt) 1854 in die USA ausgewandert. Aus Deutschland, wie man dort liest. 1831 – das Jahr, in dem Mathias Dillinger zur Welt kam – gehörte sein Geburtsort zu Preußen.
Am 21. Juli 2012 zeigte der Dokumentarfilmer Klaus Hernitschek bei den „NaturVision Filmtagen Bayerischer Wald“ seinen Dokumentarfilm „Unser Dillinger“, in dem er sich mit seinem Filmteam neben anderen Aspekten der Auswanderer aus dem Bayerischen Wald auch mit der Frage der Herkunft John Dillingers auseinandergesetzt hatte. Das Ergebnis lautete schon damals: Dieser Dillinger stammte nicht von „hier“. Die tatsächliche Herkunft seiner Familie wurde im Film bereits damals mit von mir recherchierten Dokumenten aus den Vereinigten Staaten belegt. Und auch Klaus Hernitschek, Hermann Wandtner und Klaus Flossmann vom Grafenauer Filmteam wären nicht die ersten gewesen, die in ihrer bis heute mehrmals wiederholten Dokumentation der Frage nach der Herkunft von John Dillinger nachgingen.
2010 erschien im Mitteilungsblatt des Landkreises für Saarlouis für Kultur und Landschaft, Heft 2 ein Aufsatz von Bernd Winter: „John H. Dillinger, 1933/34 Amerikas Staatsfeind Nr. 1“. Winter lüftet das Geheimnis gleich im Untertitel seines Beitrages, der Großvater von John Dillinger stammte aus Gisingen. Genau jenem Gisingen, das heute der in Wikipedia genannte Ortsteil der Gemeinde Wallerfangen im Landkreis Saarlouis ist – übrigens der gleiche Landkreis, in dem der Ort Dillingen/Saar liegt. Wir erinnern uns: Dillinger, ein Herkunftsname. Im Aufsatz ist genealogisch zusammengestellt der relevante Zeitraum der Familie Dillinger aufgezeigt: vom Urgroßvater bis zum erschossenen John Dillinger.
Doch wie verlässlich sind all diese Angaben?
In den Vereinigten Staaten von Amerika müssen seit dem Jahr 1790 in einem Abstand von zehn Jahren Volkszählungen stattfinden. Die Verfassung des Landes macht die Vorgabe, denn eine Meldepflicht für die Menschen des Landes, wie sie in Deutschland existiert, gibt es in den USA nicht. Die Dokumente dieser Befragungen wurden akribisch erfasst und natürlich entsprechend archiviert. Zur zwölften Zählung beispielsweise, im Jahr 1900, findet sich in den Unterlagen des Bureau of the Census der Vereinigten Staaten der entscheidende Hinweis zur Herkunft des am 22. Juli 1934 erschossenen Gangsters John Herbert Dillinger.
Der 154. Besuch des Volkszählers John R. Copeland führte ihn nach Clay Township, einem der vierzehn townships in Morgan County, Indiana, um dort bei Johns Großvater, Mathias Dillinger und seiner Frau Mary, die benötigten Daten zur Volkszählung zu erheben. Wurde er dort noch fälschlich als Mathias Dillenger eingetragen, weisen ihn die Unterlagen zur Befragung aus dem Jahr 1910, mittlerweile verwitwet, in der korrekten Schreibweise Mathias Dillinger aus. Auch die Frage nach dem Ort der Geburt wurde gestellt. Und die Antwort des im April 1831 geborenen Mathias Dillinger, dem Großvater von John Dillinger, lautete in beiden Fällen: „France“.
Warum er, der aus einem Ort stammte, der damals preußisch war, als Geburtsort Frankreich nannte, bleibt wohl den Verhältnissen der damaligen Zeit in seiner Heimat geschuldet. Wir aber, die wir auf einen Gangster von daheim warten, wir müssen uns nun noch etwas gedulden bis zur Schlagzeile: „Jack Raimundsreuter von der Polizei in Chicago erschossen.“
Hans Mirwald
Der Autor ist gebürtiger Grafenauer. Als Diplom-Geograf sowie Absolvent des Studigengangs Lehramt-Realschule (Deutsch/Erdkunde) hat er unter anderem am DFG-Projekt „Digitales Ortsnamenbuch Online“ an der Universität Regensburg mitgearbeitet.