Salzweg. Die Angst vor der Angst lässt ihn schier verzweifeln. An Schlaf ist nicht zu denken. Seine Gedanken kreisen immer wieder um dieselbe Frage: „Warum ich? Warum ausgerechnet ich?“ Aus dem starken Mann, dem gestandenen Polizisten, ist eine tickende Zeitbombe geworden. Drehe ich durch? Bleibe ich ruhig? Wie reagiere ich? Manfred Weindl ist unfähig, weitere Einsätze zu absolvieren. Hilflosigkeit macht sich breit. Der Salzweger ist psychisch am Ende, hat schwere Depressionen, wie sich später raustellen wird. Diese Schwäche will sich der heute 52-Jährige jedoch lange nicht eingestehen, tröstet sich mit Alkohol, zieht sich in seine eigene Welt zurück. Er steht kurz vor der Trennung von seiner Ehefrau Evi, die drei Söhne erkennen ihren Vater nicht mehr wieder. Manfred Weindl denkt an Selbstmord. „Wasser in den Mund und abdrücken. So bringt sich ein Polizist um. Wenn, dann muss es hundertprozentig sein“, denkt er sich damals.
Im Inneren von Manfred Weindl spielt sich immer wieder die gleiche Szene ab. Immer wieder hat er dieselben Bilder von jener Winternacht 1997 vor Augen. Gemeinsam mit einer jungen Kollegin ist er auf Streife, ein Routineeinsatz für den erfahrenen Polizisten. In einer Wohngegend der Stadt Passau ist der Polizeihauptmeister stationiert. Dort kann er seinen Traumberuf heimatnah ausüben. Ein Fahrzeug ohne Kennzeichen begegnet ihnen im Gegenverkehr. „Den kontrollieren wir“, beschließen die beiden Beamten. Noch bevor Weindl und seine Kollegin den Fahrer anhalten können, fährt dieser jedoch an den rechten Fahrbahnrand – und legt sich seitlich auf den Beifahrersitz. Die Polizisten sind in höchster Alarmbereitschaft.
Weindl holt aus, mit einem Schlag überwältigt er den Widersacher
Bei der anschließenden Kontrolle möchte ihnen der Fahrzeuglenker weismachen, er sei gar nicht gefahren, habe vielmehr gerade sein Autoradio einbauen wollen. „Eine glatte Lüge natürlich“, erinnert sich Weindl. „Sowohl meine Kollegin als auch ich haben ihn am Steuer des Wagens gesehen.“ Routinemäßig werden die Personalien des aus Russland stammenden Fahrers durchleuchtet, die Herkunft des Autos ermittelt. Wie sich herausstellt, ist das Fahrzeug stillgelegt und somit nicht versichert – der Mann hat auch keinen gültigen Personalausweis. Er muss mit auf die Wache, weigert sich aber. Es kommt zu einem Handgemenge, in dessen Verlauf der Straftäter zu flüchten versucht. Weindl hetzt ihm hinterher, erwischt ihn gerade noch. „Ich habe Anstrengungsasthma – und daher fast keine Luft mehr bekommen“, schildert er weiter. Da sein Gegenüber immer noch vehement Widerstand leistet, holt Weindl aus und überwältigt seinen Widersacher mit einem gezielten Schlag auf die Nase.
„Eine Enttäuschung, die ihresgleichen sucht“
Der Schlüsselmoment, der Wendepunkt im Leben des jungen Beamten: Manfred Weindl wird von dem verhafteten Russen angezeigt. In dessen Augen war der Schlag ins Gesicht und die daraus resultierende gebrochene Nase unnötig, eine vorsätzliche Körperverletzung. Zahlreiche Verhandlungen vor dem Amtsgericht – und dann auch vor dem Landgericht Passau folgen. Eine kleine Odyssee, die sich über fünf Jahre dahinzieht. Von 1997 bis 2001 ist Weindl fast häufiger in Gerichtssälen als im Streifenwagen anzutreffen, berichtet er. Und stets wird er dabei von der Justiz aufs Neue enttäuscht: Niemand glaubt ihm seine Version – auch die Zeugenaussage seiner Kollegin bleibt wirkungslos.
„Obwohl letztlich der Freistaat die Strafe zahlen musste, weil ich ja im Dienst war, war der ganze Prozess für mich eine schallende Ohrfeige, eine Enttäuschung, die ihresgleichen sucht.“ Nicht nur das Urteil – der Autofahrer bekommt Recht gesprochen – erschüttert den Salzweger, vor allem aber die Art und Weise, wie die Verhandlungen aus seiner Sicht verlaufen sind, macht ihn fertig. Vereidigte Zeugen etwa, die plötzlich auftauchen und ihm zufolge völlig anhaltslose und frei erfundene Aussagen machen, werden nicht zur Rechenschaft gezogen. „Die Rechtsanwältin des Russen ist mit dem Richter bestens bekannt gewesen, hatte ihre Kanzlei in einem Haus, das dem Richter gehört hat.“
Aus dem starken Mann wird ein Häufchen Elend
Manfred Weindl, damals um die 40 Jahre alt, fühlt sich wie im falschen Film, fühlt sich alleingelassen. „Ich wollte, dass die Wahrheit und die Gerechtigkeit siegen. Deshalb habe ich, als es um die Anerkennung als Dienstunfall ging, den Fall bis zur höchsten Instanz durchgezogen“, sagt er heute. „Ich habe immer an die Justiz geglaubt. Später bin ich daran zerbrochen, habe die Welt nicht mehr verstanden.“ Der Gerechtigkeitsfanatiker ist fertig, völlig desillusioniert. Mit 40 ein psychisches Wrack, das den Glauben an seine Ideale verloren hat. Nicht mehr fähig, seinen Dienst nachzugehen.
Sein Körper reagiert mit Entzündungen – an der Schulter, an der Achillessehne, an den Ellenbogen. „Ich bin so ziemlich an jedem Körperteil operiert worden, das es gibt.“ Die körperlichen Schäden können „repariert“ werden, die seelischen Probleme bleiben. Aus dem physisch und psychisch starken Menschen ist ein Häufchen Elend, ein gebrochener Mann geworden; aus seinem Traumberuf ein Martyrium.
In Wackersdorf erlebte er „kriegsähnliche Zustände“
Viel hatte Manfred Weindl in seiner bis dato noch jungen beruflichen Laufbahn bereits erlebt. 1982 beginnt seine Ausbildung zum Polizeibeamten, ein großer Traum geht für ihn in Erfüllung. Allerdings mit Anlaufproblemen. „Ich sehe sehr schlecht, eigentlich hätten sie mich nicht genommen. Erst nachdem ich dem damaligen Innenminister Tandler einen persönlichen Brief geschrieben habe, wurde ich eingestellt – Gott sei Dank war sowas damals noch möglich.“ Er fühlt sich wohl in seiner Rolle als Aufpasser, als Freund und Helfer. Als junger und motivierter Bereitschaftspolizist hat er einen seiner ersten Einsätze in Wackersdorf, beim „Kampf“ um die dortige atomare Wideraufbereitungsanlage. Die hitzige Zeit in den 80er Jahren gehört zur Geschichte Deutschlands – wenn auch zu einem eher unrühmlichen Teil…
Eine Doku über die Wackersdorf-Demonstrationen in den 80er Jahren:
„Das waren teils kriegsähnliche Zustände“, blickt Weindl auf diese Zeit zurück. „Wackersdorf hat mich geprägt.“ Er steht damals neben einem Kollegen, als dieser von Demonstranten angezündet wird. Er erlebt, dass Kinder und Frauen bei Auseinandersetzungen als „Futter“ in die ersten Reihen geschickt werden. Er kommt mit dem „Schwarzen Block“ im berühmt-berüchtigten „Chaoten-Eck“ in Berührung, den härtesten Widersachern der Polizei in dieser Phase. Freilich stellt sich auch der Salzweger die Frage nach dem „Warum„. Selbstverständlich hadert auch er mit der Gewalt und den Verletzten. Letztlich fühlt er sich aber seinem Amtseid verpflichtet und verrichtet pflichtgemäß seinen Dienst. Auch deshalb, weil er seinen Beruf liebt. Damals spielte die Polizei noch eine andere Rolle, hatte ein anderes Standing innerhalb der Gesellschaft, so Weindl. „Wir waren wer. Man hatte Respekt vor uns. Da reichte schon unsere bloße Anwesenheit – und manche Schlägerei löste sich von selbst auf.“
„Schon am Morgen habe ich die erste halbe Bier getrunken“
Diesen Mann bringt nichts aus der Ruhe, möchte man meinen, während man ihn erzählen hört. Doch der Vorfall mit dem Autofahrer von einst, das Urteil der Richter, die Hilflosigkeit vor den Gesetzesvertretern – das alles beschäftigt ihn noch heute. Wie eine Art Trauma. In vielen Nächten haben ihn diese Dinge nicht ruhen lassen, immer wieder dieselben Gedanken in zermürbender Endlosschleife. Nur alkoholisiert kann er damals all das am Ende noch ertragen. „Schon am Morgen habe ich die erste halbe Bier getrunken. Überall im Haus hatte ich meine Lager. Ich war alkoholabhängig“, gesteht er sich heute ein.
Er wollte nicht wahrhaben, dass die Probleme die Folge einer psychischen Erkrankung sind. Auch die Ärzte tappten lange im Dunkeln. „Wegen meiner Schlaflosigkeit und der Panikattacken, die mich jede Nacht peinigten, dachten sie zuerst an eine Schlafapnoe – und ich wurde in dieser Richtung behandelt. Ich bin aber gar kein Schnarcher. Und trotzdem habe ich diese Diagnose akzeptiert.“ Endlich hatte das Kind einen Namen – wenn auch einen falschen. Denn die Schwierigkeiten gingen weiter, an einen geregelten Dienst war nicht mehr zu denken.
Evi und die Liebe zu den Pferden retten ihm das Leben
Letztlich retten ihm – erste Suizid-Gedanken hatten sich in Weindls Kopf bereits festgesetzt – drei Dinge das Leben: Sein HNO-Arzt, der ihn erstmals auf psychische Probleme ansprach, die Liebe zu seiner Familie sowie die wachsende Begeisterung für Pferde. Während der schlimmsten Phase seiner Depression hatte er sich einen Vierbeiner gekauft. „Und das obwohl ich vorher eigentlich nie viel mit Tieren zu tun gehabt habe.“ Ein Glücksfall. Klingt komisch, aber: Der Salzweger und die Pferde scheinen auf einer Wellenlänge zu liegen. Ein von Gott gegebenes Talent. So wurde Manfred Weindl nach und nach immer wieder hinzugerufen, wenn es Probleme bei einem Tier gab – anfangs ein Freundschaftsdienst, später ein berufliches Standbein. Denn mittlerweile ist er als „Pferdeflüsterer“ – die Presse hat ihm diesen Namen gegeben – in ganz Deutschland bekannt.
„Flüstern? Nein, damit hat das überhaupt nichts zu tun“
Obwohl dieser Titel freilich werbetechnisch die Ideallösung ist, räumt der 52-Jährige mit sämtlichen Träumereien auf. „Flüstern? Nein, damit hat das überhaupt nichts zu tun.“ Vielmehr orientiert er sich an den Naturgesetzen. „Der Souveränste setzt sich durch – und ist der Chef.“ Vertrauen, Gehorsam, Ruhe – mit diesen Mitteln ist jedes noch so störrische Pferd zu knacken, sagt er.
Irgendwie sind hier auch Parallelen zu seinem früheren Beruf als Polizist bemerkbar, das stellt auch er immer wieder fest. „Bösewichte und aggressive Tiere handeln ähnlich“, erzählt Manfred Weindl mit einem Lächeln und ergänzt: „Mit dem einzigen Unterschied, dass Pferde niemals aus niederen Beweggründen handeln wie der Mensch. Sie wehren sich nur. Pferde wurden vom Menschen zu dem gemacht, was sie sind.“ Ja, mittlerweile kann er wieder lachen. Das Schlüsselerlebnis aus seiner Zeit als Polizist ist zwar noch nicht ganz vergessen, aber – Gott sei Dank – im hinteren Ende seines Gedächtnisses angekommen. Manfred Weindl ist glücklich, hat wieder Spaß am Leben. Auch wenn er erst lernen musste, mit Enttäuschung umzugehen…
Helmut Weigerstorfer