Freyung. Einladend öffnet Resi Schandra die Tür zu ihrem Appartement im Rosenium in Freyung. Sie hat sich ihr „kleines Reich“ sehr gemütlich eingerichtet – und wer sie besuchen kommt, vergisst schnell, dass er sich eigentlich in einem Seniorenheim befindet. Die vielen Bilder und Bücher im Wohn- und Essbereich heißen einen herzlich willkommen. Und wenn man die 75-Jährige erblickt, fällt einem sofort das Lachen auf, das über ihr ganzes Gesicht huscht. Resi Schandra lädt förmlich zum Zuhören und Verweilen ein.
Resi Schandra wird 1939 in Falkenbach geboren. Wenn sie von ihrer Kindheit spricht, scheint es, als wenn es erst gestern gewesen wäre. Sie erzählt jedoch nicht wirklich, sondern trägt das Erlebte vielmehr in Gedichtform vor. Mit Gedichten, die sie selbst darüber verfasst hat. Beim ihren Vorträgen wirkt sie nicht traurig, sondern glücklich zurückblickend.
„Ich möchte die Zeit weder beweihräuchern noch bejammern“
„Ich möchte die Zeit nicht beweihräuchern – aber auch nicht bejammern. Wir waren 14 Kinder, davon drei mal Zwillinge. Natürlich war es gerade während und nach dem Krieg sehr schwer, da alles knapp war. Die Armut war riesengroß. Für meine Eltern aber ist es noch viel schwerer gewesen. Oft fragten wir unsere Mutter, was es denn zu essen gibt – und sie konnte es uns nicht sagen.“ Ein bisschen nachdenklich schaut Resi Schandra jetzt doch drein. Sie blickt auf das Bild ihrer Familie, das an der Wand direkt neben dem Esstisch hängt. „Aber es war dennoch ein schönes Familienleben. Weil: Was man nicht gekannt hat, hat man auch nicht vermisst. Ich war nie alleine, es war immer wer da. Ich habe mir mit zwei Geschwistern ein Bett geteilt. Unser Haus stand ganz am Waldrand. Deswegen hatten wir nicht einmal elektrisches Licht. Ich war schon 17, als wir’s bekamen.“
Als junges Mädchen geht Resi, wie es damals üblich war, von zu Hause weg, um Geld zu verdienen. Nach Frankfurt zu einer Zahnarztfamilie – als Haushaltshilfe. Sie ist stolz, sich dort ihre Haare abschneiden zu lassen. Endlich sind ihre langen Zöpfe weg. „Mit einem Bubikopf hatte ich ein frauliches Aussehen. Ich habe mir eine Dauerwelle für 15 Mark machen lassen, doch gefallen hab ich mir überhaupt nicht,“ sagt sie heute lachend. „Auch hier passt wieder ein Spruch von mir: Du erfährst nichts Neues, wenn Du immer wieder in Dich hineingehst, aber viel Neues, wenn Du manchmal aus Dir herausgehst. In der Stadt hab ich es aber nicht lange ausgehalten. Als ich einmal krank geworden bin, habe ich mir die Frage gestellt, was mir denn eigentlich wichtig ist. Ich habe ein kleines Zimmer gehabt, ein Bett und auch etwas Geld: 150 Mark im Monat.“ Plötzlich hält sie inne und sagt: „Eigentlich erzähl ich das immer gar nicht so, auf diese Weise. Ich berichte davon lieber in Gedichten.“
„Zeitlang“ heißt ihr Werk über die Zeit in Frankfurt. Die Augen geschlossen berichtet sie davon, dass es dort keine Bäume und Wiesen um sie herum herum gegeben hat – und dass sie erst Hochdeutsch lernen musste. In Gedanken ist sie damals immer bei ihrer Familie, denkt ständig an Zuhause und was ihre Geschwister dort wohl gerade alles machen. Auch mit der Familie des Zahnarztes bekommt sie immer mehr Probleme. Sie soll Dinge tun, die sie nicht will und fühlt sich oft belästigt und bedrängt. Schließlich hält sie es in der Stadt nicht mehr aus und schreibt ihrer Mutter einen Brief. Diese holt sie dann endlich zu sich nach Hause.
„Nur im Traum schüttet Dir die Seele das Herz aus“
Nach der Zeit in Frankfurt zieht sie – wieder zurück in den Bayerischen Wald – von einem Haushalt zum anderen. Dann lernt sie ihren Mann kennen, den sie kurze Zeit später mit 19 Jahren heiratet. Sie ist sehr stolz, ab sofort mit „Frau Schandra“ angesprochen zu werden.
„Es fühlte sich wie eine Auszeichnung an. Da hab ich etwas für mich alleine gehabt.“ Bald darauf bekommt sie fünf Kinder. Sie ist zwar nicht berufstätig, weil ihr Mann das nicht gewollt hätte, aber im Haushalt gibt es genug zu tun. Sie schickt ihre Söhne und Töchter auch nicht in einen Kindergarten, sondern zieht sie zu Hause groß. „Zu ihnen habe ich heute noch einen guten Bezug – und an Familienfesten wie Geburtstagen merkt man, dass wir eine sehr fröhliche Familie sind“, sagt sie zufrieden.
Für Resi ist es eine besonders schwere Zeit, als ihr Mann stirbt, denn nun ist sie plötzlich zum ersten mal alleine. Nach 51 Jahren Ehe. „Ich muss jetzt nicht auf Biegen und Brechen einen neuen Partner haben, das nicht, aber mir geht das in den Arm nehmen und das Kuscheln schon sehr ab. Da bin ich von meinem Mann in dieser Hinsicht sehr verwöhnt worden. Wir haben uns geliebt – bis zum letzten Tag.“ Jetzt wird ihr Blick doch etwas wehmütig.
„Reserl schreib!“ – sonst hat sie nix gesagt…
Aber kurz darauf lacht sie wieder und erzählt von ihren Gedichten: „Wie ich zum Schreiben gekommen bin, war lange ein Geheimnis, da ich mit esoterischen Dingen gar nichts am Hut habe und damit auch nichts zu tun haben will. Als meine Mutter gestorben war, habe ich eines Nachts geträumt. Ich habe geträumt, dass wir mit der Familie gesungen haben und plötzlich haben wir nicht mehr weiter gewusst. Auf einmal steht meine Mutter vor mir und sagt: ‚Reserl schreib!‘ Sonst hat sie nix gesagt. Aber das war so laut, als wenn sie bei mir gewesen wäre. Dann bin ich aufgestanden und in die Küche gegangen. Ich dachte: Mutter bist Du da? Dann sitze ich um drei Uhr in der Früh am Küchentisch, als mein Mann reinkommt und mich fragt, was ich da mache. Ich erzähle ihm, dass meine Mutter im Traum zu mir gesagt hat, ich soll schreiben. Daraufhin meinte er: ‚Du wirst ma doch ned spinnad wern.'“
Während sie davon erzählt, kann man sich richtig gut vorstellen, wie die Situation damals gewesen ist. „Das war für mich alles so überwältigend, dass ich am ganzen Körper zitterte. Weil ich eben mit dem Aberglauben nichts zu tun habe. Seit dieser Nacht bin ich mir vorgekommen wie ein Kasten, eine Truhe, die voll mit Texten ist. Der Traum war wie der Schlüssel dazu.“ Und dann sei alles aus dieser Truhe rausgefallen, „was ich vergessen habe, was ich vielleicht keinem erzählt habe. Meine Kindheit natürlich auch. Ich dachte dann aber, wenn die Gedichte über meine Kindheit zu Ende sind, dann fällt mir nichts mehr ein.“ Aber der Kasten wird nicht leer. Sie schreibt immer weiter und denkt bei sich: „Wie schaut denn des aus, wenn die erwachsene Frau da sitzt und schreibt? I bin ja keine Dichterin ned…“ Wieder lacht sie dabei herzlich.
„Der Mensch braucht was für sich alleine“
Als Resi das Schreiben beginnt, ist sie schon über 40. „Ich habe ja nicht einmal gelesen. Kein Buch, auch nicht die Zeitung. ‚Wenn ich mal Zeit habe, dann lese ich was‘, habe ich mir immer gesagt. Aber bei fünf Kindern… Bevor ich mit dem Schreiben anfing, hab‘ ich eine Zeit lang fast einen Putzfimmel entwickelt. Die Sauberkeit ist mir auch immer noch wichtig. Der Putzzwang hat irgendwann nachgelassen, aber ich wollte trotzdem was für mich haben.“ Jetzt ist sie in ihrem Redefluss kaum zu bremsen: „Deswegen hab ich nach dem vielen Putzen das Handarbeiten angefangen. Aus dünnster Wolle habe ich riesige Tagesdecken mit feinsten Mustern gehäkelt. Bis zum Erbrechen habe ich daran gesessen, aber ich habe damit wieder etwas für mich gehabt. Etwas nur für mich alleine, nicht immer nur für andere. Der Mensch braucht etwas für sich, was nur ihm allein gehört – und die Dichterei war ein so wunderbarer Ausgleich für mich, in allen Bereichen. Ich habe über alles geschrieben. Da war ich dann immer erfreut, wenn mir ein kurzer Spruch eingefallen ist. Dann hab ich es mir im Kopf zurechtgelegt und daran gefeilt. Aber ich war um den Gedanken schon einmal froh. Wenn der Gedanke erst mal da ist, kann ich dran arbeiten und dann wird was draus.“ Die Wolle kann sie nun nicht mehr sehen.
„‚S Reserl soll’s vortragen“, hieß es immer
Resi Schandra hält nicht nur Vorträge bei Kulturveranstaltungen, sondern sie besucht auch Kinder in der Schule, um ihnen den Dialekt wieder näher zu bringen. Einen Tipp für Jugendliche auf der Partnersuche hat sie auch gleich parat: „Wenn Dir oana an Himmel verspricht, soidsd da schneij oan suacha, der de auffangt, wennsd aus alle Wolken foist.“ Wenn Leute fragen, wie sie alles so frei vortragen kann, antwortet Resi gern: „Ich hab ja nie was aufschreiben müssen, sondern das Gedicht ist komplett in meinem Kopf fertig – erst dann wird es notiert. Alles, was einmal bei mir eingerastet ist, bleibt da drin (tippt sich an die Stirn). Auch in der Schule hatte ich nie Probleme, etwas auswendig zu lernen. Die anderen Schüler haben schon immer gewartet, wenn so etwas anstand, und gemeint:
‚S’Reserl soll’s vortragen‘. Meine Zwillingsschwester Berta hat sich sowas absolut nicht merken können. Aber bei mir kommen die Gedichte und Sprüche einfach so. Da schau ich was an, ziehe Parallelen zu anderen Dingen und der Gedanke ist da. Ich brauche kein Buch. Ich muss nichts lesen können oder aufschreiben. Das ist auch eine Gabe, die ich bekommen habe. Ich brauch‘ gar nicht viel. Ich kann mich einfach hinstellen und erzählen – oder ein Lied singen.“ Ein Lied singt sie dann auch ganz spontan. „Hansl bleib do bei mir“ heißt es. Beim Singen leuchten ihre Augen.
„Schnörkellos und direkt – der dialekt ist wunderbar!“
Germanistik-Professor Dr. Gottfried Glechner aus Oberösterreich bereitet Resi Schandra 1999 eine große Freude. In einem Brief spricht er in höchsten Tönen über sie:
„Liebe Frau Resi, Sie werden sich wundern, von mir ein Schreiben zu erhalten und was ich etwa von Ihnen möchte! Kurz gesagt: Ich will gar nichts! Ich möchte Ihnen nur sagen, dass mir Ihre Dichtungen, die Sie vor einigen Jahren bei einem Mundartdichtertreffen in Hauzenberg vorgetragen haben, so außerordentlich gut gefallen haben, dass ich sie bis heute nicht vergessen habe. Ihre Erzählungen gehören zum Besten und Echtesten, was es in der Mundartdichtung gibt. Dazu kommt, dass Sie über einen schönen, noch unverdorbenen Dialekt verfügen und eine Meisterin in der Vortragskunst sind… „
Ein weiterer Befürworter und Wegbegleiter von Resi Schandra ist der ehemalige Heimatpfleger Hanns Gruber. Da auch er in Falkenbach wohnte, kennt er viele Personen aus Resis Gedichten wieder und gibt ihr den ein oder anderen Anstoß aus dem Dorfleben, den sie später dichterisch umsetzt.
Vielleicht ist es genau die Mischung aus Dialekt und Versform, die den Erzählungen die Lebendigkeit verleiht. „Der Dialekt bedingt jedoch, dass ich nicht weiter außerhalb des Bayerischen Waldes bekannt geworden bin. Die Leute kommen zu mir und sagen, dass sie mir unendlich gerne zuhören, aber dann zu Hause quälen sie sich mit der Leserei. Deswegen habe ich auch schon versucht, Kompromisse einzugehen. Beim Geschriebenen zum Beispiel bairische Wörter auf Hochdeutsch aufzuschreiben. Aber das ist dann auch nicht mehr richtig. Entweder ganz im Dialekt oder gar nicht. Jetzt schreibe ich seit 30 Jahren und es war nicht ein Jahr dabei, in dem ich keine Lesung oder einen Vortrag gehabt hätte.“
Es ist ihr anzumerken, dass gerade dieses Thema sie sehr stark beschäftigt. „Der Dialekt ist heute gefragt wie nie, aber ich mag das nicht, wenn er für Ordinäres oder Beschimpfungen missbraucht wird. Der Dialekt ist eine eigene Sprache, eine wunderbare Sprache. Schnörkellos und direkt. Die hochdeutsche Sprache mag ich auch – ich kann zwei Sprachen. Mir ist ja der Dialekt in die Wiege gelegt worden und als ich in die Schule gekommen bin, war das Hochdeutsche für mich neu. Ich habe mich lange dagegen gewehrt.“ Jetzt wird sie wieder aufbrausender und blüht in ihrer Erzählung richtig auf: „Aber eines stimmt nicht: die Behauptung, dass einer, der nur Mundart kann, kein gutes Hochdeutsch hinbekommt. Ich bin das perfekte Gegenbeispiel dafür. Mein Aufsatz war einma der beste im ganzen Landkreis – mit dem habe ich dann sogar noch gewonnen…“
„Was ich studiert habe? Nix, nix wie’s Lem!“
Viel hat sie schon erlebt, die Resi Schandra. Von ganz großen Gefühlen bis hin zu tiefsten Schicksalsschlägen. Den Lebensmut verlieren? Kommt für sie nicht infrage. „Wenn man mich fragt, was ich studiert habe, dann sage ich: Nix, nix wie’s Lem und wenn’s mir vagunnt ist, dann häng ich noch ein paar Semester dran.“ Wie schon so oft, muss sie auch dabei herzlich lachen. Sechs Dialektbände, eine CD („Im Zug der Zeit“) und eine Prosaerzählung hat sie bereits veröffentlicht. Als neuestes Werk folgte Ende vergangenes Jahr ein Band in Schriftdeutsch. „Momentaufnahmen“ lautet der Titel.
Und ganz zum Schluss fängt sie noch einmal das Schwärmen an: „Über die Liebe, da habe ich so viel geschrieben. Vor allem die kurzen Verse – die liebe ich über alles.“ Sie beendet das Gespräch schließlich so, wie es sich die ganze Zeit durchgezogen hat – mit einem kleinen Vers: „Ich kann nicht viel schenken, ich kann nicht viel geben; ich vererb Euch die Liebe und die Freude am Leben!“
Ruth Zitzl