Freyung. Der Kinderarzt und Neurologe Dr. Jürgen Dörrer aus Freyung macht in den letzten Jahren immer wieder besorgniserregende Beobachtungen: „Viele Kinder und Jugendliche, die zu mir in die Praxis kommen, haben zunehmend Konzentrationsschwierigkeiten, Wahrnehmungsprobleme und Schwächen beim Lesen, Rechnen und Schreiben.“ Schuld daran ist unsere schnelllebige Zeit: „Immer schneller, höher, weiter … das wird dem Kind von Anfang an eingetrichtert“, so Dörrer. Dabei lerne das Kind nichts, außer schneller und hektischer zu werden. „Die Eltern haben keine Zeit mehr – und die Kinder werden deswegen oft vor Fernseher oder Computer abgeladen.“ Das Resultat: Viele Kinder können sich vor lauter Reizüberflutung nichts mehr merken. Denn, warnt der Kinderarzt, elektronische Spielzeuge dienten weder der natürlichen Wahrnehmung noch hätten sie irgendeinen persönlichen Bezug.
Gelerntes wird durch anschließendes Fernsehen regelrecht gelöscht
„Zeichentrickfilme und dergleichen sind passiv, die Kinder müssen dabei nichts tun. Sie müssen sich ganz dem Takt fügen, der ihnen das Angebot vorgibt“, macht Dörrer deutlich. Die Folge: Das kindliche Gehirn ist überfordert und schüttet auf Grund der Stresssituation Adrenalin aus. Und das alles erzeugt wiederum Hektik. Dass nicht kindgerechte Angebote körperliche Unruhe erzeugen, ist das eine. Das andere Problem dabei ist, dass zuvor Gelerntes dadurch regelrecht gelöscht wird: „Haben die Kinder beispielsweise Hausaufgaben gemacht“, so Dörrer, „und lassen sich danach von Computer oder Fernseher ‚berieseln‘, dann haben die Hausaufgaben so gut wie keinen Effekt.“ Viel besser wäre es, wenn Kinder und Jugendliche rausgehen würden, damit sich das Gelernte im Gehirn festigen kann.
Wenn aber bereits grundlegende Wahrnehmungsprobleme und Konzentrationsschwierigkeiten bei Kindern vorliegen, dann erzielt man, zum Beispiel bei der Nachhilfe, meist nur unbefriedigende Erfolge mit rein übenden Maßnahmen. Und wegen fehlender Erfolgserlebnisse steigt die Frustration bei den Kindern umso mehr. Nicht verwunderlich, schließlich „lernen“ sie ja fleißig … Dörrer empfiehlt solchen Kindern und Jugendlichen deshalb die Kybernetische Methode.
Kinder müssen Laute bewusst wahrnehmen, um Sprache zu verstehen
Diese Lernmethode wurde von Eva Spindler-Jergens und Hariolf Dreher entwickelt, weil sie ihren Töchtern bei deren Lernschwierigkeiten helfen wollten. Sie nannten es die „Kybernetische Methode“, nach dem aus dem Griechischen stammenden Wort „Kybernetik“, das übersetzt so viel bedeutet wie „Steuermannskunst“. Denn die Kybernetische Methode zum Erlernen von Lesen, Schreiben und Rechnen ist eine Methode, die sich mit der Steuerung der Bewegungen, die beim Lernen von Bedeutung sind, befasst.
Lerntherapeutin Alexandra Mager, die diese Methode gemeinsam mit Dörrer in die Kindergärten und Schulen tragen möchte, erläutert das am Beispiel des Lesenlernens: „Unsere Sprache besteht aus verschiedenen Lauten, die bestimmten Buchstaben entsprechen. Diese Laute muss ein Kind bewusst wahrnehmen“, so Mager. Und dies erreiche man dadurch, dass das Kind diese Laute oft genug deutlich beobachte und ausspreche. Erst wenn die Bewegungen des Mundes beim Sprechen der Laute verinnerlicht worden seien, könnten die dazugehörigen Zeichen, nämlich die Buchstaben, verstanden und schnell gelesen werden.
„Macht ein Kind in den ersten Lebensjahren diese Erfahrung nicht“, verdeutlicht die Lerntherapeutin, „dann hat es später nur noch die Chance, ganze Ausdrücke auswendig zu lernen.“ Viele dieser Kinder schafften es, auch in der weiterführenden Schule noch, lange Zeit mit dieser Strategie zu „überleben“, aber irgendwann stoße das Gehirn dann an seine Grenzen: „Man kann nicht alles nur auswendig lernen“, so Mager, „das Kind muss eine phonetische Bewusstheit haben, denn dann kann es irgendwann selbst Buchstaben und Wörter kombinieren.“
Die Kybernetische Methode ist besser als die üblichen „Paukmethoden“
Ein Bewusstsein für Laute und die Zuordnung dieser Laute zu Buchstaben, entsteht bereits in den ersten Lebensjahren des Kindes – und nur dann, wenn das Kind durch angemessene, dem Wahrnehmungstempo des Kindes entsprechende Reize angeregt wird. „Wir Erwachsene vergessen oft, dass wir ein ganz anderes Wahrnehmungstempo haben als Kinder“, warnt Mager, „und überfordern unsere Kinder deshalb.“
Die Kybernetische Methode setzt genau da an, an einem Punkt, an dem „Paukmethoden“ scheitern: Die Kinder werden auf die Stufe zurückgeführt, auf der die Wahrnehmung trainiert wird. „Sie erlesen die einzelnen Laute anhand von Mundbildpiktogrammen“, erklärt Mager die Übungen. Erst dadurch würden ihnen die Laute bewusst werden. „Die Kinder, die ich bislang betreut habe, konnten kurze Zeit später schneller lesen, die Schrift wurde ordentlicher und sie machten deutlich weniger Fehler.“
„Damit es aber erst gar nicht so weit kommt, müssen wir uns immer wieder vor Augen halten, dass unsere Wahrnehmung eine andere ist als die unserer Kinder“, mahnt die Lerntherapeutin. Gerade im Kindergarten sei es deshalb wichtig, den Kindern genügend Zeit zu lassen, sich zu vertiefen. Am besten gelinge dies in den ersten Jahren, wenn sie sich in der Natur beim Spielen mit den vier Elementen möglichst frei entfalten dürften. Im letzten Kindergartenjahr könnten dann gezielte Maßnahmen, wie die Kybernetische Methode, auf das Lernen in der Schule vorbereiten. „Die Methode eignet sich aber auch hervorragend für den Erstunterricht in der Schule und die Förderung älterer Schüler, weil sie bei den Wurzeln ansetzt.“
Angesichts der Tatsache, dass es, einer Hamburger Studie zufolge, siebeneinhalb Millionen funktionale Analphabeten in Deutschland gibt, herrscht jedenfalls dringender Handlungsbedarf, sind sich Mager und Dörrer einig. Sie wollen sich deshalb mit ihrer Methode im neuen Jahr gezielt an Kindergärten und Schulen wenden. Wer mehr zum Thema wissen möchte, kann sich unter der Telefonnummer 08551/7346 oder per Email (mager.andreas@gmx.de) bei Lerntherapeutin Alexandra Mager melden.
Dike Attenbrunner